Optimum 1
Stück weiter unter die tief hängenden Zweige gerutscht und dort liegen geblieben. Von Ricas Position aus war sie ganz deutlich zu sehen.
Rica schnappte sich Jeans und T-Shirt, die auf dem Stuhl neben dem Bett lagen, und streifte sie über. Ihre Muskeln protestierten und ein scharfer Schmerz schoss durch ihre Schläfe, aber sie achtete nicht darauf. Sie angelte nach ihren Schuhen, schlüpfte hinein und schwankte aus ihrer Zimmertür.
»Rica!« Ihre Mutter fuhr vom Esstisch hoch, als Rica so plötzlich herein kam. »Was –«
»Keine Zeit. Gleich!« Und bevor ihre Mutter sie aufhalten konnte, hatte sich Rica schon an ihr vorbeigeschlängelt und riss die Wohnungstür auf.
Ihre Seite schmerzte höllisch bei jedem Atemzug, und in ihrem Schädel hämmerte es. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Knie gleich unter ihr nachgeben würden, aber wenigstens konnte sie heute wieder einigermaßen auftreten. Rica verdrängte die Schmerzen und lief – immer zwei Stufen auf einmal nehmend – die Treppe hinunter.
Im nächsten Augenblick war sie draußen, rannte zu den Büschen und angelte nach der Akte. Sie war nicht sehr schwer, merkte Rica, als sie den Papphefter zu sich heranzog. Nur ein paar Blätter waren darin. Wahrscheinlich hatte Frau Jansen auch deswegen nicht gemerkt, dass sie fehlte. Rica unterdrückte den Impuls, jetzt sofort hineinzusehen, und stopfte die Akte kurzerhand unter ihr T-Shirt. Dann stand sie auf, überlegte kurz und wandte sich dem Weg zu den Tennisplätzen zu. Wenn sie jetzt wieder zurück in die Wohnung ging, musste sie sich doch nur den Fragen ihrer Mutter stellen, das konnte sie gerade überhaupt nicht brauchen.
Der Weg lag im Schatten, und niemand war unterwegs. Das grüngoldene Licht ließ den Tunnel noch unwirklicher erscheinen als sonst, und selbst von den Sportplätzen drang kein Laut zu Rica herauf.
Gleich als der Weg auf die Wiese mündete, bog Rica nach links ab und ging ein Stück den Waldrand entlang. Die Bäume warfen lange Schatten über das Gras, und in einem davon ließ sie sich nieder und zog die Akte unter ihrem T-Shirt hervor. Hier war sie zwar nicht perfekt versteckt, aber doch vor den Blicken eines zufälligen Passanten einigermaßen verborgen, und gleichzeitig konnte sie alles sehen.
Zufrieden schlug sie die Akte auf.
Der Hefter enthielt wirklich nur ein paar Blätter und einen Umschlag, wie sie von Fotoläden ausgegeben werden, wenn man seine Bilder auf Papier drucken lässt. Rica warf einen Blick in den Umschlag. Es war tatsächlich ein Stapel Fotos darin. Nun gut, die würde sie sich später ansehen. Jetzt wollte sie erst einmal herausfinden, worum es in dieser Akte überhaupt ging.
»Projekt Nummer 0034« stand in fetten Buchstaben auf der Titelseite, gleich darunter befand sich ein Logo und der Schriftzug »Nathans-Institut«. Irgendetwas an dem Papier und dem Logo kam Rica seltsam vor. Nachdenklich fuhr sie mit dem Finger über den Aufdruck und hob dann den ganzen Hefter dicht vor ihr Gesicht, um vorsichtig an dem Papier zu riechen.
Sie hatte recht gehabt. Die A4-Seiten rochen ganz ähnlich wie die alten Schulakten ihrer Mutter. Das hier war altes Papier und, wenn sie sich den Schriftsatz so ansah, wahrscheinlich noch älter als nur ein paar Jahre.
Rica blätterte sich durch die Akte. Das Erste, was ihr in die Hände fiel, war eine Art Fragebogen, wie man ihn manchmal auch vom Arzt bekam. Ein Name stand nicht darauf, dafür alle möglichen Fragen zu Herkunft, Krankengeschichte, irgendwelchen Arzneimittelunverträglichkeiten, so etwas. Das Formular sah ziemlich alt aus, und die Handschrift, mit der es ausgefüllt worden war, war krakelig und streckenweise kaum lesbar. Rica wollte den Bogen schon weglegen, als ihr Blick auf die letzte Frage fiel.
»Sind Sie über die Risiken einer künstlichen Befruchtung und einer eventuellen In-vitro-Fertilisation aufgeklärt worden?«
Der oder die Unbekannte hatte »ja« angekreuzt und dann – offensichtlich in einem Anfall von leichter Verärgerung – daneben geschrieben: »Wir haben ja nur jeden Tag der letzten beiden Wochen darüber geredet. Können wir jetzt mal anfangen?«
Rica musste grinsen. Wer auch immer das geschrieben hatte – sie hatte Respekt vor ihm. Er oder sie hatte Humor, und der war genau auf Ricas Wellenlänge.
Sie blätterte weiter, las, dass bei Projekt Nummer 0034 ein Kind per In-vitro-Fertilisation empfangen worden war und dass es sich um einen Jungen handelte. Es gab sogar ein Foto von einem ziemlich
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