Optimum 1
von ihrem Fußhalt abzurutschen.
»Beweg dich nicht, ich habe es gleich!«
Noch so ein sinnloser Ratschlag. Sie musste sich bewegen, sonst stürzte sie ab. Rica drehte den Kopf noch ein wenig weiter, damit sie die Wand direkt unter sich sehen konnte. Da – dort war er, der Fußhalt, von dem sie kurz zuvor gekommen war, ein knallgelbes Plastikteil, ein wenig größer als das, auf dem sie gerade stand. Wenn sie wenigstens das erreichen konnte …
Aber dafür musste sie ihren sicheren Handhalt aufgeben und tiefer greifen. Und dieser Gedanke versetzte Rica in grenzenlose Panik… Nur nicht loslassen, nur nicht loslassen. Aber sie musste loslassen. Rica versuchte, tief und ruhig zu atmen, presste sich nach vorn gegen die Wand, schloss einen Moment die Augen, um sich zu konzentrieren – und wagte es dann.
Vorsichtig löste sie ihre verkrampften Finger von dem Griff und packte hastig den nächstunteren. Beinah ein wenig zu hastig, denn fast hätte sie ihn verfehlt und bei der ganzen Aktion endgültig ihr Gleichgewicht verloren. Doch dann schlossen sich ihre Finger um das Plastik, und einen Moment lang kam sie sich vor, als wäre sie schon gerettet, solche Erleichterung durchflutete sie. Doch das war natürlich erst der Anfang. Wieder wagte sie einen Blick über ihre Schulter nach unten, der Fußhalt schien unerreichbar weit weg zu sein, aber sie musste es versuchen, sie musste einfach. Rasch, bevor sie noch zu lange darüber nachdenken konnte, löste sie ihren zweiten Handhalt und griff nach unten. Sie kontrollierte kurz ihren Halt und dann – ganz vorsichtig – löste sie den rechten Fuß von seiner Stütze und tastete nach unten. Irgendwo musste sich doch der Halt befinden.
Das Seil spannte sich mit einem Ruck, der Rica einen leisen Aufschrei entlockte.
»Ich hab dich!«, rief eine Stimme von unten, die sie nun eindeutig als die von Lars erkannte. »Seil dich ab, Rica. Die Route machst du ein andermal zu Ende!« Einen Augenblick lang regte sich Ricas Widerspruchsgeist, und sie überlegte, ob sie nicht einfach wieder nach oben steigen sollte. Es war schließlich nur noch das kurze Stück über den Überhang, und dann wäre sie oben, die linke Route gemeistert, die Angst bezwungen. Doch in Lars’ Stimme lag so viel Autorität, dass sie lieber gehorchte. Sie griff nach dem Seil an ihrem Hüftgurt, stieß sich mit den Füßen von der Wand ab und begann, sich Stück für Stück hinunterzulassen.
Schneller, als ihr lieb gewesen wäre, kam sie auf dem Boden an – und musste um ihr Gleichgewicht kämpfen, als ihre Beine unter ihr nachzugeben drohten. Fremde Hände eilten ihr zu Hilfe, packten sie unter den Armen und zogen sie in eine aufrechte Position, bevor sie stürzen konnte. Dankbar blickte sie auf, direkt in die Gesichter von Lars und seiner Frau Andrea. Beide waren unnatürlich blass. Lars sah erleichtert aus, Andrea eher ärgerlich.
»Bist du in Ordnung?«, fragte sie in besorgtem Tonfall.
Mit zitternden Händen wischte Rica sich den Schweiß von der Stirn und brachte gerade so ein Nicken zustande. »Mir geht es gut. Was ist mit … was war mit Jo los?« Sie befreite sich aus dem Griff ihrer Kletterlehrer und sahen sich fragend um. Die meisten Schüler der Kletter-AG standen in einer dichten Gruppe zusammen und guckten ängstlich zu ihr herüber, nur Eliza kam auf sie zugelaufen. Von Jo war keine Spur zu sehen.
Lars machte keine Anstalten, auf ihre Frage zu antworten. »Du warst tatsächlich bereit, die Wand ganz ohne Sicherung wieder nach unten zu klettern, nicht wahr? Ganz schön mutig, muss ich schon sagen.« In seinem Blick lag Bewunderung, und Rica konnte sich eines leichten Gefühls des Stolzes nicht erwehren.
»Rica!« Eliza war an ihrer Seite angekommen und warf sich in ihre Arme, als wäre sie ein lange verschollener Liebhaber. »Alles okay mit dir? Ich hatte solche Angst.«
»Was ist überhaupt passiert?« Vorsichtig löste sich Rica aus Elizas Umklammerung. Sie wollte ihre Freundin nicht verletzen, aber hier so eng umschlungen zu stehen, das war einfach nichts für sie.
»Jo ist plötzlich zusammengebrochen, keine Ahnung, was da los war«, stieß Eliza hervor und warf einen furchtsamen Blick zurück auf die Gruppe von Schülern, die immer noch beieinanderstanden wie verschreckte Schafe. »Ich glaube, es muss ein epileptischer Anfall gewesen sein, oder zumindest so was Ähnliches.«
»Ein Anfall?« Rica reckte den Hals und versuchte vergeblich, in dem Knäuel aus Schülern irgendetwas zu
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