Optimum 1
abgehauen«, flüsterte sie, leicht nach vorn gebeugt, sodass nur die anderen Mädchen sie verstehen konnten. »Bestimmt wollte sie uns nach diesem Unfall nicht mehr unter die Augen treten. Besonders nicht dir, Rica.« Sie warf Rica einen bezeichnenden Blick zu und fuhr in dramatischem Tonfall fort: »Du hättest schließlich sterben können.«
Rica schüttelte ärgerlich den Kopf und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Eine ganze Weile saß sie nur so da und ließ ihren Blick über den sonnendurchfluteten Pausenhof schweifen. Ganz unwillkürlich suchte sie nach Jos schwarzem Schopf. Doch alles, was sie sehen konnte, waren ein Haufen spielender Unterstufler und mehrere kleine Grüppchen Mittel- und Oberstufler, die beieinanderstanden und sich unterhielten. Manche von ihnen rauchten und kamen sich unendlich cool vor. Einige Wespen schwirrten zwischen den Schülern herum und gaben sich große Mühe, allen auf die Nerven zu fallen.
»Jo würde das nicht tun«, sagte Rica schließlich. »Sie mag ja einiges sein. Aber nicht feige. Ich glaube, sie würde zu mir kommen und mir erklären, was passiert ist.« Sie war sich sicher, dass sie recht hatte. Jo mochte in letzter Zeit niedergeschlagen und teilweise auch aggressiv gewirkt haben, aber sie hatte sich nie vor einer Verantwortung gedrückt. Zumindest nicht, wenn es um ihre Freunde ging.
»Vielleicht hat man sie eingewiesen«, vermutete Sarah. »Ich meine – sie hatte doch einen Zusammenbruch. Vielleicht kommt man dafür in eine geschlossene Anstalt. In eine Zwangsjacke.«
»Ach, hör auf, heutzutage gibt es doch keine Zwangsjacken mehr. Zumindest nicht für so etwas wie einen harmlosen epileptischen Anfall«, fauchte Rica. Sie fragte sich, warum sie sich immer noch mit Sarah abgab, so hirnlos, wie die manchmal war.
»Woher willst du wissen, dass es ein –«, begann Sarah trotzig, aber Rica war schon aufgestanden und sprang von ihrer Bank.
»Ich bin mir sicher, dass ihr was zugestoßen ist«, knurrte sie. »Sie ist in keiner Anstalt oder so was. Sonst würden sich die Lehrer doch keine Sorgen machen. Sie mögen uns Theater vorspielen, aber das ginge dann doch zu weit.« Sie reckte sich und ließ ihre Schultern kreisen. »Aber wenn ihr alle nicht herausfinden wollt, was passiert ist, dann muss ich das eben allein machen.«
Sie konnte die verblüfften Blicke der anderen geradezu spüren, aber sie kümmerte sich nicht darum. Mit hocherhobenem Kopf spazierte sie über den Schulhof davon.
Sie war noch nicht weit gekommen, als sie hastige Schritte hinter sich hörte.
»Rica, warte doch!« Eliza holte sie kurz vor der Eingangstür ein. Rica blieb stehen und drehte sich zu ihrer Freundin um, aber offensichtlich gelang es ihr nicht, den Ärger zu unterdrücken, denn Eliza wich ein kleines Stück zurück. »Was ist denn mit dir los?«
Rica presste die Lippen aufeinander, zu ärgerlich, um etwas zu sagen. Ein paar Schüler drängten sich an ihnen vorbei und rempelten sie wenig freundlich zur Seite, was ihre Laune nicht gerade besserte. Kümmert sich denn hier überhaupt jemand um den anderen? Aber ihr war klar, dass Eliza eine Antwort erwartete, und so zwang sie sich, etwas zu sagen. Ihre Stimme war rau vor Ärger.
»Ich weiß nicht. Ich bin einfach sauer darüber, wie ihr alle annehmt, dass Jo verrückt ist und dass sie jetzt in Behandlung muss. Keiner macht sich wirklich Sorgen um sie. Es ist einfach ihre Schuld, verstehst du? Das ist so beschissen. Ehrlich. Was ist das denn für eine Einstellung?« Mehr brachte sie nicht heraus. Die Worte schienen ihr im Hals stecken zu bleiben, und Elizas ungläubiges Gesicht half ihr auch nicht weiter. Rica wandte sich ab.
Doch plötzlich packte Eliza sie am Arm und drehte sie wieder zu sich um. Ihr Griff war erstaunlich kräftig.
»Sie haben Angst«, sagte sie leise. »Ich glaube, sie fürchten sich davor, so zu werden wie Jo, wenn sie zugeben, dass sie nicht einfach besonders wahnsinnig ist.« Sie verstummte, und wieder war da auf ihrer Miene dieser Ausdruck von Angst, der Rica schon öfter an ihr aufgefallen war.
Rica starrte sie verblüfft an, dann lachte sie bitter. »Ihr seid schon eine ziemlich seltsame Schule, wisst ihr das? Depressionen sind doch nicht ansteckend. Und das ist es, was Jo hat, glaube ich. Warum sollte irgendjemand von euch davon betroffen sein?«
Eliza zuckte mit den Schultern, aber die Furcht in ihren Augen blieb. »Aber was willst du unternehmen? Ich meine, du weißt doch auch nicht, was
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