Optimum 1
*
Rica sah Eliza noch eine Weile hinterher, doch ihre Freundin drehte sich nicht mehr um. Noch immer verstand Rica nicht, was da gerade passiert war. Irgendetwas an Jos Eltern hatte Eliza fürchterlich aufgewühlt. Wenn sie nur wüsste, warum. Vielleicht bekam sie später die Gelegenheit, mit ihr darüber zu sprechen.
Blieb die Frage, was sie nun tun sollte. Jo war weiterhin verschwunden, und allmählich gingen Rica die Ideen aus, wo sie noch suchen und wen sie noch fragen könnte. In ihrem Kopf schwirrten die Gedanken umher wie ein Schwarm Kolibris und ließen sie nicht zur Ruhe kommen. Um sie herum kreischten Unterstufler in einer Lautstärke, dass ihr die Ohren davon wehtaten, und die Menge an Menschen schien ihr auf einmal erdrückend. Kein Wunder, dass ich keinen klaren Gedanken fassen kann. Sie brauchte dringend eine kurze Pause, einen Ort, an dem sie über ihren nächsten Schritt nachdenken konnte.
In diesem Moment fiel ihr die Musikhalle wieder ein. Sie schien jetzt genau der richtige Platz zu sein. In der Stille und der Einsamkeit gelang es ihr vielleicht, wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Rica öffnete die Eingangstür und lief die Stufen hinunter ins grelle Sonnenlicht. Die Mittagshitze hatte inzwischen eingeschlagen. Nur wenige Schüler schlenderten träge den Weg entlang, die meisten hatten sich auf dem Rasen und den Parkbänken niedergelassen, unterhielten sich leise und ließen sich die Sonne auf die Köpfe scheinen. Die Wärme ließ die Geräusche und Gespräche seltsam gedämpft erscheinen, als wären selbst die Töne zu träge, um sich bemerkbar zu machen. Die Blumen am Wegrand wirkten schlaff und traurig. Rica fühlte sich unangenehm an einen Friedhof erinnert, auf dem alle nur mit gedämpften Stimmen sprachen.
Sie beschleunigte ihre Schritte und tauchte bald in den Schatten der Bäume und Büsche ein. Hier war es ein wenig kühler, aber immer noch genauso still. Der blätterbedeckte Boden federte unter ihren Schritten, und selbst die Rosen ließen heute die Köpfe hängen. Rica schnupperte, aber es lag kein angenehmer Blumenduft in der Luft, eher etwas Süßliches, das sie nicht einordnen konnte. So schwer und süß, dass es ihr beinah Übelkeit verursachte. Insekten summten zwischen den Büschen herum, Fliegen vor allem, keine Bienen, die sich sonst gern an den Rosenblüten gütlich taten.
Irgendetwas stimmt nicht.
Mit jedem Schritt, dem sie der Musikhalle näher kam, spürte Rica es deutlicher. Irgendetwas war nicht in Ordnung, und das lag nicht nur an der Sommerhitze. Immer mehr Fliegen schienen sich zu versammeln, und der Geruch wurde immer schlimmer. Das ist kein Pflanzengeruch, und es ist auch nicht einfach nur die Hitze. Es roch übel. Wie verdorbenes Essen, oder …
Den letzten Gedanken konnte sie nicht mehr zu Ende führen, denn nachdem sie um den letzten Rosenbusch gebogen war, blieb sie auf der Stelle stehen, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen.
Jo … oh, Jo!
Sie wusste sofort, dass es sich um Jo handelte, auch wenn sie das Gesicht nicht sehen konnte. Vielleicht war das auch ganz gut so. Aber die Kleider und das dunkle, kurze Haar – und außerdem: Wer sollte es sonst sein?
Die Luft stand still über dem kleinen, freien Platz. Das Summen der Fliegen war jetzt so laut, dass Rica glaubte, man müsse es bis zur Schule hören.
Rica war wie erstarrt. Alles in ihr schrie danach, wegzulaufen, zu fliehen, Hilfe zu holen, doch ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen. Sie konnte den Blick nicht von dem schrecklichen Bild wenden, es war wie ein Zwang. Wie ein Horrorfilm, den man trotz allem Gruseln nicht abschalten kann.
Nur dass das hier viel realer war als jeder Film.
Es war vor allem das Blut, das ihren Blick wie magisch anzog. So viel Blut. Dass das alles von einem einzigen Menschen stammen sollte, wollte Rica nicht in den Kopf.
Jo lag in dem winzigen Amphitheater, das als Sitzgruppe gedient hatte. Sie hatte sich lang auf dem Rücken ausgestreckt, ihre Hände lagen locker auf ihrem Bauch, als habe sie sich nur für ein kleines Nachmittagsschläfchen hingelegt. Aus den Büschen, die das Halbrund einkreisten, waren weiße und rosafarbene Blütenblätter herabgefallen, deckten Jo teilweise zu und bildeten ein hübsches Muster um sie herum. Ein romantisches Bild: Das Mädchen, das in den Rosenblüten schlief. Doch das Blut, das ihr T-Shirt tränkte und in dunklen Lachen von ihren Handgelenken auf den Boden gelaufen war, sprach eine andere Sprache.
Die Narben an ihren Armen
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