Optimum 1
dann kann ich auch gleich direkt zum Angriff übergehen. Sie trat noch weiter aus dem Wald heraus und stemmte die Arme in die Hüften.
»Was ist mit Torben? Wer war das, der ihn da abgeholt hat? Warum lassen Sie ihn wegbringen?« Sie schoss die Fragen schneller ab als Gewehrfeuer und gab sich redlich Mühe, dabei genauso unbeeindruckt auszusehen wie Frau Jansen selbst. Als hätte sie das Recht, hier zu sein und diese Fragen zu stellen.
Frau Jansen lächelte ihr patentiertes »Du bist dumm und klein und verstehst davon nichts«-Lächeln und blieb vor Rica stehen. Eingehend musterte sie sie. »Torben war sehr verstört über den Tod seiner Klassenkameradin und nun auch seines Zimmergenossen. Er ist gestern zu mir gekommen, und wir haben beide gemeinsam beschlossen, dass es für ihn besser ist, wenn er für eine gewisse Zeit die Schule verlässt und Hilfe bekommt.« Ihr Lächeln verschwand keine Sekunde, ihre Augen blieben jedoch eiskalt.
»Sie meinen, Sie haben ihn in eine Anstalt bringen lassen?« Rica warf einen demonstrativen Blick hinüber zur Einfahrt, wo das Auto natürlich schon lange nicht mehr zu sehen war. »Das sah aber nicht gerade nach so etwas aus. Seit wann beschäftigen die in einer Irrenanstalt ›Men in Black‹?«
Frau Jansen machte ein verwirrtes Gesicht, bis sie den Ausdruck eingeordnet hatte. Dann seufzte sie. »Ricarda, du bist einfach zu misstrauisch. Gibt es denn gar niemanden, dem du vertraust?«
Ihnen jedenfalls nicht, dachte Rica, zuckte aber nur mit den Schultern. Sollte Frau Jansen halt denken, dass sie einen gestörten und verkorksten Teenager vor sich hatte, Hauptsache, Rica bekam noch etwas mehr aus ihr heraus. Allerdings schien das nicht ganz so zu funktionieren, wie sie sich das vorgestellt hatte. »Sie wollten mit mir sprechen«, sagte sie deswegen. »Robin hat es mir erst heute Morgen sagen können. Ich war gestern nicht da.« Die Lüge kam ihr leicht über die Lippen, und auch wenn sie den Eindruck hatte, dass Frau Jansen sie sehr scharf musterte, gelang es ihr, weiterhin ruhig und beinah gleichgültig zu wirken.
Nach einer kurzen Weile nickte Frau Jansen. »Ich habe gemerkt, dass dich der Tod deiner Freundin sehr erschüttert hat, und ich dachte, vielleicht ist es besser, wenn du da mit jemandem drüber reden kannst.«
»Ich kann mit meiner Mutter reden oder mit meinen Freunden.« Der Satz rutschte Rica heraus, bevor sie ihn aufhalten konnte. Verdammt. Sie hatte doch über diese Schiene mit Frau Jansen ins Gespräch kommen wollen, jetzt blockte sie schon wieder ab. Sie biss sich auf die Unterlippe.
Doch zum Glück wischte Frau Jansen ihren Einwand einfach beiseite. »Freunde und Familie sind nicht das Gleiche wie jemand Professionelles«, erwiderte sie. Abermals musterte sie Rica von oben bis unten, dann nickte sie. »Ich glaube, du solltest dich mal vom Schularzt untersuchen lassen.«
»Vom Schularzt?« Dieses Mal war Ricas Überraschung nicht gespielt. Sie hatte mit einem erneuten »therapeutischen Gespräch« gerechnet, aber nicht damit, dass sie jemand zum Schularzt schickte. »Ich bin doch nicht krank!«
»Manche seelischen Probleme können durchaus körperliche Ursachen haben«, antwortete Frau Jansen. »Und wenn wir beide in Zukunft diese Probleme angehen wollen, dann brauche ich eine Bestätigung, dass diese tatsächlich existieren.« Sie zuckte mit den Schultern und lächelte, eine Geste, die sie seltsam menschlich wirken ließ. »Rechtlicher Kram. Du weißt ja, wie das mit den Krankenkassen ist. Man muss alles begründen.«
Um ein Haar hätte Rica zurückgelächelt. Frau Jansen kam ihr auf einmal so anders vor. Viel realer, nicht wie eine Inquisitorin, aber dann merkte sie, dass diese Freundlichkeit vermutlich genau das bezwecken wollte. Die Therapeutin versuchte, die Schranken zwischen ihnen zu durchbrechen, Rica in Sicherheit zu wiegen. Ein vertrauensvolles Verhältnis aufzubauen. So ging das doch in den Therapien: Zeig ihnen, dass du ihr Freund bist, und sie werden dir alles erzählen. Zumindest stellte Rica sich das so vor. Sie setzte eine hoffentlich undurchdringliche Miene auf. »Na gut, zum Schularzt dann. Wollen wir das wenigstens schnell hinter uns bringen? Ich hätte auch Interesse daran, mit Ihnen zu reden.« Verdammt, schon wieder die falsche Reaktion. Warum hatte sie nicht so getan, als hätte Frau Jansens gespielte Freundlichkeit bei ihr etwas bewirkt? Manchmal war sie aber auch zu blöd.
Doch wieder schien die Therapeutin ihren Fehler kaum zu
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