Optimum 1
bemerken. Sie sah erfreut aus. »Ich bringe dich gleich hin, wenn du möchtest. Tatsächlich habe ich momentan sogar ein wenig Zeit …«, sie warf einen demonstrativen Blick auf ihre Armbanduhr, »… wir könnten dann gleich eine Sitzung einschieben, wenn du möchtest. Ich müsste ein paar Termine verschieben, aber ich glaube, das ist machbar. Wenn du es denn wirklich möchtest.« Sie schenkte Rica einen warmen und intensiven Blick. »Wir möchten dich hier an dieser Schule zu nichts zwingen, was du nicht selber möchtest, Ricarda.«
Ja, klar, dachte Rica und versuchte, den Spott nicht offen zu zeigen. Sie nickte. »Ist schon okay. Vielleicht ist es ja besser zu reden.« Sie zögerte, legte eine Kunstpause ein und senkte dann den Blick zu Boden, als sei sie verlegen und versuchte nicht nur, die nächste Lüge zu verbergen. »Ich habe viel darüber nachgedacht, was Sie mir beim letzten Mal erzählt haben. Vielleicht ist da ja doch etwas dran. Ich kannte meinen Vater nicht, wissen Sie, und nun überlege ich schon, ob ich nicht unbewusst nach seinem Vorbild zu leben versuche. Also nach dem Ideal, das ich von ihm habe, wissen Sie?« Gott, was für ein ausgemachter Bullshit, dachte sie und hielt den Blick fest auf ihre Schuhspitzen gerichtet. Bloß nicht aufsehen, damit sie sich nicht verriet. Das, was sie da von sich gegeben hatte, klang nach Fernsehserienpsychologie, und das war ihr auch sehr bewusst. Aber vielleicht – hoffentlich – war Frau Jansen es ja gewohnt, dass Leute solche dämlichen Aussagen über sich selbst machten.
»Lassen wir den Schularzt entscheiden.« Frau Jansen zeigte keinerlei Absicht, auf Ricas bekloppte Diagnose etwas zu erwidern. »Komm, ich bringe dich hin.« Sie wandte sich ab und ging den Hügel wieder hinauf Richtung Schulhaus. Rica, den Blick immer noch zu Boden gesenkt, ging nach kurzem Zögern hinter ihr her. Nun hat es begonnen, dachte sie, und ihr Magen zog sich bei dem Gedanken zusammen. Meine Undercovermission.
Frau Jansen ließ sie nicht allein, bis sie die Tür des Schularztes erreicht hatten. Rica war erst einmal hier gewesen, an ihrem ersten Tag. Da hatte sich die Untersuchung auf ein knappes Durchsehen ihrer Akte und ein kurzes Wiegen und Messen beschränkt. Sie hatte kaum einen Eindruck von dem Mann zurückbehalten, der in ihren Augen genauso aussah wie Dutzende andere Schulärzte auch: klein, grau und irgendwie vom Leben enttäuscht. Vermutlich wurde man so, wenn man zu lange in diesem Beruf arbeitete. Es ließ einen schrumpfen.
Frau Jansen klopfte, öffnete die Tür, ohne eine Antwort abzuwarten, und steckte den Kopf durch den Spalt. »Ich habe Ricarda Lentz mitgebracht, Herr Langfeld«, sagte sie in einem heiteren Tonfall. »Sie erinnern sich? Wir haben über sie gesprochen.«
Von drinnen kam eine gemurmelte Antwort, die Rica nicht verstand. Sie fragte sich, was die beiden über sie geredet haben mochten. Hatte Frau Jansen es so hingebogen, dass Rica auf jeden Fall eine Therapieempfehlung bekam? Steckte der Schularzt auch mit ihr und den seltsamen Leuten aus dem Auto unter einer Decke?
Rica schauderte, doch nun war es eindeutig zu spät, um einen Rückzieher zu machen. Frau Jansen schob die Tür weit auf und trat beiseite, sodass Rica ungehindert ins Innere des kleinen Büros treten konnte.
Der Raum sah nicht viel anders aus als andere Lehrerbüros auch, ein Schreibtisch aus massivem, dunklem Holz, zwei Besucherstühle, eine Menge Bücherregale. Die beiden großen Fenster gingen nach hinten auf den Park hinaus, und Rica konnte die ersten Schüler sehen, die aus der Aula kamen und sich auf dem Rasen verteilten. Ob sie heute schon wieder einen Tag freibekamen? Wenn das so weiterging, gab es hier bald keine Schüler mehr und nur noch freie Tage.
»Mach bitte die Tür hinter dir zu, Ricarda, und setz dich!« Der kleine Arzt ging fast unter hinter seinem großen Schreibtisch mit den Papierstapeln, den diversen Akten und dem riesigen Bildschirm darauf. Seine Brille war tief auf die Nase geschoben, und er betrachtete Rica über die Gläser hinweg. Vermutlich glaubte er, dass ihm das einen Eindruck von Autorität verlieh, Rica kam es jedenfalls nur lächerlich vor. Gehorsam schloss sie die Tür und ließ sich auf einem der Sessel nieder. Wenigstens waren sie bequemer als die in Frau Jansens Büro.
Herr Langfeld musterte sie eine ganze Weile lang schweigend, als warte er darauf, dass sie ihm von ihren Problemen erzählte. Vielleicht war das ja auch so. Normalerweise
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