Optimum 1
Sie machte eine Geste, die irgendwo zwischen einem Nicken und einem Schulterzucken angesiedelt war, und gab sich Mühe, gelangweilt auszusehen. Innerlich kochte sie. Sie wollte endlich hier raus, und mit Frau Jansen reden. Besser gesagt, sehen, was sie von Frau Jansen erfahren konnte.
»Ich habe gehört, dass du mit Alina gesprochen und dich auch sonst nach Josefine erkundigt hast?«
»Ich kann einfach nicht glauben, dass sie sich das Leben genommen haben soll.« Rica stützte sich auf der Tischplatte ab und beugte sich nach vorn. »Jo war nicht so jemand. Sie war eine Kämpferin. Und deswegen versuche ich einfach zu verstehen, was passiert ist.« Der letzte Teil ihrer kleinen Rede kam nur zögerlich heraus, sie wusste schon, während sie ihn aussprach, dass sie zu weit gegangen war. Sie hörte sich nicht mehr an wie eine besorgte Freundin, sondern mehr wie jemand, der Anschuldigungen in die Welt setzte. Und sie wollte weder den Schularzt noch Frau Jansen in die Defensive treiben. Die Therapeutin würde sicher jedes Wort erfahren, das Rica mit dem Schularzt gewechselt hatte.
Herr Langfeld betrachtete sie wieder eindringlich, bevor er sich eine kurze Notiz in der Akte machte. »Bist du sicher, dass du deine Freundin da nicht falsch einschätzt, Ricarda? Reden wir wirklich von der gleichen Josefine Meegen?«
Jetzt verstand Rica wirklich nicht mehr, worauf er hinauswollte. Sie zwinkerte verblüfft und suchte noch nach einer passenden Antwort, als er auch schon weitersprach: »Oder reden wir am Ende von dir selbst, Rica? Es gibt so etwas wie Projektion, weißt du?« Er lächelte freundlich und verständnisvoll. »Ich weiß ja, dass du neu an dieser Schule bist. Es ist verständlich, dass du dich da so eng an jemanden wie Josefine gebunden hast, jemanden, der sich hier auskennt und der einen starken, verlässlichen Eindruck macht.« Er ließ sich jetzt ebenfalls in seinem Sessel zurücksinken und wirkte ganz entspannt. »Aber ich glaube, dass du in Josefine sehr viel mehr gesehen hast, als wirklich in ihr steckte. Du kanntest sie ja noch gar nicht lange. Vieles von dem, was du gesehen hast, war eine Fassade. Und der Rest …«, er machte eine wegwerfenden Handbewegung, »… mag Wunschdenken gewesen sein.«
»Wunschdenken?« Rica wäre beinah aus dem Stuhl hochgefahren. »Was meinen Sie denn damit? Glauben Sie, ich kann nicht mehr unterscheiden, was Realität und was Vorstellung ist? Ich kannte Jo sicher besser als Sie.«
Doktor Langfeld beeindruckte ihr Ausbruch überhaupt nicht. Er lächelte nur weiter, als habe er gerade etwas bestätigt bekommen, das er schon lange geahnt hatte. Rica biss sich auf die Unterlippe und kämpfte mit sich, nicht einfach aufzustehen und aus dem Büro zu fliehen. Zu gern hätte sie jetzt die schwere Holztür hinter sich zugeknallt, so laut, dass es im ganzen Schulhaus widerhallte. Aber sie musste bleiben. Nicht nur wegen Jo, sie wollte auch selbst keinen Ärger bekommen. Sie riss sich zusammen, nahm einen tiefen Atemzug und versuchte, sich wieder ein wenig zu beruhigen.
Doktor Langfeld schüttelte bedächtig den Kopf. »Warum steigerst du dich so in diese Angelegenheit hinein, Ricarda? Was ist so wichtig daran? Ist es nicht so, dass Josefine dir an dieser Schule Halt gegeben hat und dass du nun, wo du diesen Halt verloren hast, Angst bekommst? Du stehst nun ganz allein da, nicht wahr? Und du musst damit rechnen, den Boden unter den Füßen zu verlieren.« Er senkte nur ganz kurz den Blick, um etwas auf seinen Block zu kritzeln, dann sah er ihr wieder in die Augen. »Das ist ja auch nicht verwunderlich, da du dich an dieser Schule voller außergewöhnlicher Schüler wiedergefunden hast. Es ist nur verständlich, wenn du dich da niedergeschlagen und verlassen fühlst. Ist es nicht so?«
Rica biss die Zähne zusammen und krallte ihre Hände um die Lehnen, bis ihre Knöchel weiß hervortraten. Nur nicht noch mal die Beherrschung verlieren. Oder noch besser – mitspielen. Sie senkte den Blick und nickte steif. Hoffentlich reichte das Doktor Langfeld, besser bekam sie es jetzt einfach nicht hin.
»Es ist ganz normal, dass du Depressionen hast«, fuhr er nun leise und eindringlich fort. Seine Stimme war einschmeichelnd geworden, aber es war die Art Freundlichkeit, die wohl selbst eine Fünfjährige durchschaut hätte. »Du bist aus deiner normalen Umgebung gerissen worden, und dann musstest du dich an einer neuen Schule orientieren. An einer Schule, an der alles anders ist, als du es
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