Optimum 1
nur auch alles andere verschwunden wäre, das sie ungewöhnlich machte. Sie würde sonst was dafür geben, einfach normal zu sein. Wie Rica.
Die Stufen knarrten, und Eliza fuhr zusammen, bevor ihr bewusst werden konnte, dass es nur Rica war, die die Treppe im Eilschritt heraufgestürmt kam. Gleich darauf stand sie keuchend vor Eliza und streckte ihr einen Schlüssel entgegen, von dem ein Plastikschildchen baumelte.
»Ich bin mir nicht sicher, ob die Kamera im Büro ihre Aufzeichnungen nicht direkt irgendwohin weiterleitet«, stieß Rica zwischen keuchenden Atemzügen hervor. »Wir sollten uns besser beeilen, damit wir hier verschwunden sind, bevor jemand auftaucht.« Sie streckte Eliza die Hand entgegen und zog sie auf die Füße. Dann steckte sie hastig den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um.
* * *
Lautlos schwang die Tür auf. Rica schubste Eliza in den Raum, folgte ihr auf dem Fuß und zog die Tür hinter sich zu. Zur Sicherheit schloss sie hinter ihnen ab. »Lange werden sie nicht brauchen, um zu sehen, welcher Schlüssel fehlt, wenn sie wirklich kommen und nachsehen«, sagte sie. »Aber wir müssen die Tür ja nicht gerade sperrangelweit offen stehen lassen.« Sie war sich nicht ganz sicher, wen sie mit »sie« meinte, aber inzwischen hielt sie es für möglich, dass eine ganze Geheimorganisation hinter dieser Schule und ihren seltsamen Schülern steckte.
»Wenn sie schon Jo umgebracht haben, weil sie zu viel wusste …«, begann Eliza, brachte den Satz aber nicht zu Ende. Offensichtlich war ihr der Gedanke zu unheimlich.
Rica erwiderte nichts auf diese Bemerkung, umrundete den großen Schreibtisch und drückte den Startknopf am Computer. Mit einem leisen Piepsen meldete sich der Rechner zu Wort und begann zu surren. »Kümmerst du dich um die Akten?«, fragte sie und deutete auf das Regal, in dem sich ein Ordner an den anderen reihte.
Eliza warf einen unsicheren Blick zurück zur Tür, doch der Schlüssel steckte immer noch, und niemand konnte so einfach von außen aufschließen. Dann wandte sie sich dem Regal zu, und Rica richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Bildschirm. Sie brauchte nicht lang, um einen Ordner zu finden, der vollgestopft mit Audiodateien war, schön geordnet nach Schülernamen. Jos Name sprang Rica regelrecht von einem Unterordner entgegen.
Neben ihr erklang ein lautes Plumpsen. Rica zuckte zusammen und sah auf. Eliza hatte einen Ordner aus dem Regal gezogen und neben ihr auf den Schreibtisch fallen lassen. Jetzt schenkte sie Rica ein verlegenes Lächeln und zeigte auf den Titel des Ordners. Jos Name stand darauf. Rica nickte ihr anerkennend zu und wandte sich wieder dem Bildschirm zu.
»Können wir Licht machen?« Eliza hatte den Ordner aufgeschlagen und beugte sich nun tief über die kleine Schrift. Es war klar, dass sie die Großbuchstaben auf dem Ordner noch hatte lesen können, jetzt aber mit dem Dämmerlicht überfordert war. Rica zuckte mit den Schultern, stand kurz auf, um die Vorhänge zuzuziehen, und schaltete danach die Schreibtischlampe an. Das warme gelbe Licht wirkte beruhigend und schien ein wenig Normalität ins Büro zu bringen.
Eliza begann, in dem Ordner zu blättern. Rica steckte unterdessen einen USB-Stick in den Computer und begann, Jos Audiodateien zu kopieren. Eine Zeit lang war nur das leise Rascheln von Papier zu vernehmen, während Eliza die Seiten umschlug. Rica starrte auf das kleine Fenster, das ihr sagte, welche Dateien gerade kopiert wurden. Als der Rechner damit fertig war, ging Rica in den Überordner zurück und begann, die Namen an den anderen Ordnern zu lesen. Es waren viele, sie hatte gar nicht gewusst, dass die alle hier in Therapie waren. Sarah, Janina, Vanessa, Peter … und Eliza.
Eliza?
Rica starrte den Ordner an. Sie konnte sich nicht helfen, sie fühlte sich ein wenig verraten. Da sprach sie die ganze Zeit über Frau Jansen, und Eliza hielt es nicht mal für nötig, ihr zu erzählen, dass sie ebenfalls in Therapie war! Einen Augenblick lang überlegte sie, Elizas Ordner ebenfalls auf den Stick zu ziehen und sich heimlich zu Hause anzuhören, worüber sie so in ihren Sitzungen gesprochen hatte. Wenn sie es Rica schon nicht selbst erzählte.
»Ich wusste nicht, dass du auch in Therapie bist«, sagte sie stattdessen. Sie brachte es einfach nicht über sich, ihre Freundin zu hintergehen.
Eliza zuckte leicht zusammen und blickte von ihrem Ordner auf. Ihre Augen waren riesengroß und ängstlich, sie sah aus wie ein verschrecktes Reh.
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