Optimum 1
über der Eingangstür des Gebäudes mit den Schülerunterkünften brannte eine Laterne und warf einen schummrigen Schein auf den Asphalt; kaum hell genug, dass der Pförtner in ihrem Licht etwas hätte erkennen können. Rica warf einen kurzen Blick hinüber und fragte sich, wie Eliza aus dem Gebäude kommen wollte. Aber sie hatte ihr versichert, dass sie es schaffen würde, und Rica vertraute auf die Worte ihrer Freundin.
»An der Kletterwand«, hatte sie Eliza mehr als einmal erinnert. »Um ein Uhr nachts an der Kletterwand.« Ihr Herz schlug schneller, als sie sich wieder in Bewegung setzte. Der Schlüssel ihrer Mutter klimperte in ihrer Hosentasche, und das Geräusch kam Rica unglaublich laut vor. So, als würde man es noch kilometerweit hören.
Nachdem sie die Schülerunterkünfte hinter sich gelassen hatte, wurde es noch dunkler um sie herum. Rica blieb stehen und wartete, bis sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. Schon oft hatte sie nachts aus dem Fenster ihres Zimmers geblickt und den wunderbaren Sternenhimmel betrachtet, den man hier sehen konnte, weil es kaum anderes Licht von Straßenlaternen oder Gebäuden gab. Jetzt spannte sich eben dieser Himmel über dem Rasen vor dem Schülergebäude, und Rica legte den Kopf in den Nacken, um ihn einen Augenblick lang zu genießen. Vertraute Sternbilder und das unwahrscheinlich klare Band der Milchstraße ließen sie die vor ihr liegende Aufgabe kurzzeitig vergessen. Sie stand einfach nur da, sog die kühle Nachtluft ein und genoss den Geruch nach feuchtem Gras und Baumharz. Dann rief sie sich wieder ins Gedächtnis, warum sie hier war. Frau Jansens Büro. Mit einem Seufzer setzte sie sich in Bewegung.
Sie mied den Hauptweg, um nicht aus Versehen jemandem zu begegnen – zum Beispiel einem Lehrer, der spät in die Schule zurückkehrte –, und folgte stattdessen dem kleinen Waldpfad, den die Schüler öfter nutzten. Das allerdings machte jeden Schritt zu einem kleinen Abenteuer. Sie musste aufpassen, dass sie nicht über eine Wurzel oder in eine Kuhle stolperte und sich zu allem Überfluss noch den Knöchel verstauchte. Um sie herum knisterte und knackte das Unterholz, und mehr als einmal fuhr Rica erschrocken zusammen, weil direkt neben ihrem Kopf ein Ruf ertönte. Er klang so menschlich, dass sie einen Satz ins Unterholz machte, um vor Entdeckung sicher zu sein, doch dann sah sie, wie sich ein Schatten aus den Zweigen einer Fichte löste und sanft über den Weg glitt, die dunkle Gestalt nur gerade eben erkennbar vor dem wenig helleren Hintergrund des Himmels.
Eine Eule. Oder ein Käuzchen. Rica atmete erleichtert auf, fast hätte sie gelacht. Die Situation war so klassisch, dass sie ihr fürchterlich klischeehaft erschien. Und sie selbst kam sich unendlich dumm vor. Sich so zu erschrecken. Noch einmal atmete sie tief durch, dann trat sie auf den Weg zurück und machte sich daran, mit festen Schritten zu ihrem Treffpunkt zu eilen. Sie war ohnehin schon spät dran, auch ohne dass sie vor jedem Schatten zurückzuckte.
Eliza wartete an der Kletterwand. Sie saß auf einer der Bänke, die Hände zwischen den Knien, und war so ruhig, dass Rica sie beinah übersehen hätte.
»Bereit?«, flüsterte Rica und trat neben sie.
»Du siehst aus wie ein Schwerverbrecher«, gab Eliza zurück, »oder wie eine Spionin.«
Rica lachte. Es klang fürchterlich laut in der Stille der Nacht. Sie hatte sich ausnahmsweise dunkel und unauffällig angezogen, trug einen kleinen Rucksack auf dem Rücken und den Gurt ihrer Kamera über die Schulter geschlungen. Elizas Blick sagte ihr, dass ihre Freundin den Aufzug mehr als ungewöhnlich fand.
»Wir sind doch heute auch Spione, oder?« Sie lächelte, schon allein, um Eliza ein wenig zu beruhigen, und offensichtlich funktionierte es, denn Eliza lächelte zurück.
»Dann komm!« Rica wartete nicht mehr auf eine Antwort, sondern setzte sich Richtung Schulhaus in Bewegung. Eliza folgte ihr. Wie zwei Schatten glitten sie durch die Dunkelheit. Das Schulhaus war nur als undeutliche Silhouette zu erkennen, als Dunkelheit in der Dunkelheit; etwas, das das Licht der Sterne geradezu aufzusaugen schien.
Und dann überfiel Rica ein völlig fremdes Gefühl. Sie sah das Schulhaus an, und der finstere Schatten flößte ihr mehr Angst ein als alles, was sie je zuvor schon mal gesehen oder erlebt hatte. Allein der drohende Umriss und die vollkommene Schwärze, die sich davon auszubreiten schien. Als würde das Haus irgendwie Leben aufsaugen
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