Optimum - Purpurnes Wasser (German Edition)
gab es nicht, das sich zum Mitnehmen lohnte, lediglich einen kleinen Rucksack, den sie schon im Voraus gepackt hatte, mit dem Gedanken an ihre Nordseefahrt im Kopf.
Rica schnappte sich den Rucksack und schwang ihn auf ihre Schultern. Dann sah sie sich nochmals um. Nein. Hier gab es nichts, das sie halten könnte. Mit ein paar Schritten war sie an der Tür und spähte auf den Gang hinaus. Alles ruhig. Sie hatte halb erwartet, dass Ute Wache halten würde, aber vielleicht war Rica ihr doch nicht wichtig genug. Umso besser.
Endlich läuft mal wieder etwas gut. Rica eilte zur Eingangstür und stieß sie auf, ohne dass sie aufgehalten wurde. Im nächsten Moment stand sie draußen auf der Straße. Die Dämmerung zog herauf, und die Luft war jetzt schon empfindlich kalt, doch Rica atmete sie dankbar und tief ein. Sie war froh, draußen zu sein. Irgendwie fühlte sie sich jetzt frei.
Kapitel zehn
Aufbruch
Die Stadt war groß und fremd, viel fremder als Rica es erwartet hatte. Sie war selbst in einer Stadt aufgewachsen und hatte die ländliche Abgelegenheit der Daniel-Nathans-Akademie zunächst verabscheut, aber jetzt war sie überrascht, wie schnell sie sich daran gewöhnt hatte. So sehr, dass selbst diese kleine Stadt ihr vorkam wie eine Metropole.
Sie ging langsam den Gehweg entlang in Richtung einer Bushaltestelle. Autos rauschten an ihr vorbei, und überall um sie herum schienen Lichter zu blinken. Es war gerade erst dunkel genug geworden, dass die Lampen angingen, dennoch schien die Stadt erleuchtet wie ein Weihnachtsbaum. Menschen eilten an Rica vorbei, blieben an Schaufenstern stehen und starrten hinein, oder standen in kleinen Gruppen herum und unterhielten sich halblaut. Rica ließ ihren Blick hin und her schweifen. Jeder konnte ein Spitzel des Instituts sein, und sie würde es nicht einmal merken. Bei dem Gedanken beschleunigte sie ihre Schritte ein wenig, bis sie die rettende Insel der Bushaltestelle erreicht hatte.
Es war ein kleines, beleuchtetes Häuschen, und im weißlichen Lampenlicht standen vier Menschen mit hochgeschlagenen Kragen und den Händen in den Taschen. Zwei davon waren alte Damen mit Plastiktüten voller Einkäufe zu ihren Füßen, Rica schätzte sie als harmlos ein. Ein weiterer war ein Kerl in Anzug und Mantel, der offensichtlich hochinteressiert den Fahrplan studierte. Ihn hielt Rica schon eher für gefährlich.
Der Letzte im Bunde war ein Teenager, etwa in Ricas Alter, in Parka und mit einem Militärrucksack über der Schulter. Er hatte Kopfhörer in den Ohren und starrte leer auf die belebte Straße. Er schien keine große Gefahr zu sein, aber dennoch stellte sich Rica möglichst weit von ihm weg an die Haltestelle, direkt neben die beiden alten Damen. Beide unterhielten sich lautstark über irgendwelche Enkelkinder, Nachbarn, Freunde, Hunde, und was noch alles in ihren Sinn kam. Keine von ihnen schenkte Rica auch nur die geringste Beachtung. Rica schob die Hände in die Jackentaschen, zog den Kopf zwischen die Schultern und tat so, als sei sie in ihrer eigenen Welt versunken. Hoffentlich kam der Bus bald. Sie kam sich fürchterlich verwundbar vor.
Minuten vergingen. Die Damen tratschten, der Junge hörte Musik, und der Mann studierte den Fahrplan. Er musste ihn längst auswendig kennen. Rica warf einen Blick zu ihm hinüber, doch noch immer beachtete er sie nicht. Rica nahm wieder ihre Alles-scheißegal-Haltung ein und begann, die vorbeifahrenden Autos zu zählen.
Jemand beobachtete sie. Sie konnte die Blicke in ihrem Rücken spüren. Rica zog ihre Schultern leicht zusammen, und unterdrückte das Bedürfnis, sich auf der Stelle herumzudrehen. Stattdessen trat sie von einem Fuß auf den anderen, als ob sie fror, stampfte ein wenig herum und wandte sich schließlich zu dem Häuschen um.
Es war der Junge. Noch immer hatte er seine Kopfhörer nicht aus den Ohren genommen, aber inzwischen schien er gar nicht mehr richtig auf seine Musik zu hören. Er starrte Rica unverhohlen an.
Rica schauderte. Sie suchte nach Worten. Normalerweise hätte sie eine bissige Bemerkung parat gehabt, aber der Tag schien ihr alle Worte geraubt zu haben.
»Was glotzt du so?«, fragte sie schließlich. Es klang lahm, aber der Junge zuckte zusammen und lief rot an.
»Sorry«, stieß er hervor und sah sofort auf seine Schuhspitzen hinunter.
Rica musste ein Lachen unterdrücken. Sie sah wirklich schon überall Verfolger und Bedrohung. Wahrscheinlich hatte der Kerl einfach nur überlegt, wie er sie am besten
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