OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
noch mit Zange oder Rad.«
Sie schloss für einen Moment die Augen. Die im Inquisitionskerker erlittenen Schrecknisse schienen in ihr wieder lebendig zu werden, doch sie rang alle peinvollen Erinnerungen nieder. Klara fühlte unendliches Mitleid mit der alten Frau.
»Also hat sich Cellari entschlossen«, sprach Mutter Sophia schließlich weiter, »mich wieder freizulassen und den Anschein zu erwecken, als ob ich von allen Anschuldigungen reingewaschen wäre. Vor aller Augen sollte ich im Heilig-Geist-Spital einquartiert werden – und dort hätten sich dann seine Späher auf die Lauer gelegt, um zu schauen, wer mich so alles besuchen würde.«
Sie schüttelte fast unmerklich den Kopf. Jede einzelne Bewegung bereitete ihr Schmerzen, Klara spürte es genau. »Wie Cellaris weiterer Plan im Einzelnen aussah«, fuhr die Äbtissin fort, »weiß ich natürlich nicht. Aber ich nehme an, er wollte einfach jeden, der so unvorsichtig war, an meinem Spitalbett zu erscheinen, verhaften und von seinen Schergen befragen lassen. Auf diese Weise wären ihm früher oder später zumindest einige Angehörige des Opus Spiritus in die Falle gegangen – so ungefähr hat sich das der alte Bussard wohl gedacht.«
Mutter Sophia legte erneut eine kleine Pause ein. Ihre Stirn glitzerte vor feinem Schweiß. »Aber ich wollte doch unbedingt noch einmal mit dir sprechen, kleine Klara«, sagte sie auf einmal und ihre Stimme zitterte. »Dich sehen wollte ich, noch einmal dich in meine Arme schließen. Und dir von Angesicht zu Angesicht erklären, warum wir dich und Amos in solche Gefahr gebracht haben.«
Klara schaute sie nur wortlos an. Sie wusste überhaupt nicht, was sie auf diese Eröffnungen antworten sollte, aber sie hätte sowieso kein Wort herausgebracht. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Wieder spürte sie, wie beunruhigt Mutter Sophia war – so als ob sie befürchtete, dass Cellari ihr Versteck bereits ausfindig gemacht und mit einem halben Hundert Purpurkriegern umzingelthätte. Aber sie fühlte auch, dass die Äbtissin ihre Sorgen ebenso wie ihre Schmerzen vor ihr verbergen wollte, und im Moment war Klara ihr dankbar dafür.
So stand sie nur mit weichen Knien von ihrem Sessel auf und ließ sich erneut zu Füßen der Äbtissin auf dem Boden nieder. Wo war eigentlich ihre – oder vielmehr Adrians – schmierige Filzmütze abgeblieben? Nun, darum würde sie sich später kümmern. Sie war bei Mutter Sophia, nichts anderes zählte jetzt. Klara legte ihren Kopf auf Mutter Sophias Beine und die Äbtissin streichelte ihr sanft übers Haar.
»Das Opus Spiritus«, begann Mutter Sophia, »haben wir vor über drei Jahrzehnten ins Leben gerufen und zwar aus einem einzigen Grund: Wir wollten ein Buch erschaffen, in dem das Beste aus den alten Heidenkulturen aufbewahrt und an künftige Leser überliefert würde. Die kostbarsten Schätze aus ihren Mythen und Epen, ihren magischen und musischen Künsten. Nur was genau zu diesem Besten und Bewahrenswerten gehört und was nicht – darüber gab es zwischen uns bald schon Streit.«
Sie sprach jetzt rasch und konzentriert, aber Klara hörte am hellen, fast gläsernen Klang ihrer Stimme, wie angespannt Mutter Sophia war. Und wie sehr das alles hier über ihre Kräfte gehen musste.
»Halb im Scherz sprachen wir davon«, fuhr die Äbtissin fort, »dass unser Orden in ›Dichter‹ und ›Priester‹ zerspalten sei. Die ›Dichter‹ wollten im
Buch der Geister
nur dasjenige von den alten Heidenkünsten aufbewahren, was für die Menschen wirklich hilfreich und heilsam ist.
Das Buch
sollte in seinen Lesern die magische Gabe erwecken, sich in andere einzufühlen und ihre Gedanken besser zu verstehen. Außerdem sollte es die Einbildungskraft der Menschen stärken, ihre Fähigkeit, sich an andere Orte und in andere Zeiten zu versetzen – oder kurz gesagt: sich andere, bessere Welten auszumalen als diejenige, in der wir gerade leben.«
Die alte Frau unterbrach sich, und Klara nutzte die Gelegenheit für eine Frage, die ihr seit gestern keine Ruhe mehr ließ – seitsie durch Johannes zu Bruder Meinolf gesprochen hatte. »Ihr sagt,
Das Buch
sollte nur diese vier Gaben erwecken«, begann sie zögernd. »Heißt das vielleicht, Mutter Sophia, dass es in Wirklichkeit noch weitere magische Fähigkeiten wachruft?«
Mit dieser Frage schien die Äbtissin überhaupt nicht gerechnet zu haben. Sie schaute Klara mit großen Augen an, dann schüttelte sie den Kopf. »Ganz und gar nicht«, antwortete sie. »Das wollte
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