OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger
Rappen aber hatte er ebenso wie den kostbaren Messingschild an den Flößer verloren. Und so wollte er vor die mächtigen Feinde treten, die seit Jahr und Tag seine Vatersburg besetzt hielten – ohne Rüstung und Schild, ohne Pferd und ganz allein?
Am Fuß des Burghügels blieb er stehen und spähte zur Wehrmauer empor. Dort oben hinter Schießscharten und Pechluken lauerten vielerlei Augenpaare. Stählerne Pfeilspitzen, gespickt mit verheerend in sich gedrehten Widerhaken, richteten sich auf ihn und folgten ihm beharrlich, als Laurenz sich abwandte und am Burghügel entlang auf den Waldrand zuging. Bis zur Baumlinie mussten es mehr als fünfzig Fuß sein, und bei jedem Schritt meinte er hinter sich das tödliche Sirren eines Armbrustpfeils zu hören. Doch er zwang sich, nur gerade so schnell zu laufen, dass es noch kein eigentliches Rennen war, und tauchte endlich taumelnd ins Dickicht ein. Da erst wandte er sich um und schaute aufs Neue, hinter tief hängenden Ästen verborgen, zu Burg Answer hinauf.
Von den Spähern und Schützen hinter den Schießscharten war allerdings von hier aus nichts zu sehen. Still und wie seit Langem verlassen ragte die Festung in den strahlend blauen Himmel empor. Nur die Fahne über den Turmzinnen verriet, dass überhaupt irgendjemand dort oben noch hauste und dass es nicht die rechtmäßigen Burgherren waren. Doch zu Laurenz’ Erstaunen zeigte die Feindesfahne keine gierig glimmenden Wolfsaugen bei Nacht. Von seinem jetzigen Versteck aus betrachtet, schienen es sehr viel eher zwei sichelschmale Gestirne, die nebeneinander am Nachthimmelstanden und darum wetteiferten, der wahre und einzige Mond zu sein. Doch beide waren ganz genau gleich groß und hell und vollkommen gleich geformt.
Lange Zeit stand Laurenz so da und schaute zu Burg Answer hinauf. Mancherlei Erinnerungen stiegen in ihm auf, süße, bittere und todtraurige. Vor Jahr und Tag waren seine Mutter und seine Schwester Gisa hinaus in den Wald gegangen und niemals zurückgekehrt. Das war lange bevor ihre Feinde Burg Answer an sich gerissen, den Vater ins Verlies geworfen hatten und ihm selbst im allerletzten Augenblick die Flucht gelungen war. Eigentlich hatten die Mutter und Gisa damals nur rasch zu ihrem Jagdkastell gehen wollen, um nach einem angeschossenen Rehkitz zu sehen – aber auch dort waren sie niemals angekommen. Der Vater hatte alle seine Männer um sich geschart und Wälder und Schluchten tage- und wochenlang durchforstet, doch sie hatten nicht die kleinste Spur von den beiden entdeckt. Gisa war sechzehn gewesen, als sie verschwunden war, ein Jahr älter als Laurenz, und genauso erstand sie nun auch vor seinem geistigen Auge wieder auf – ein schönes, empfindsames Mädchen mit heller Haut und goldblonden Haaren, beinahe schon eine junge Frau.
Endlich gelang es ihm, sich aus dem Bann seiner Erinnerungen loszureißen. Laurentius wandte sich um und ging mit raschen Schritten tiefer in den Wald hinein.
In sanftem Gefälle verlief hier ein schmaler Weg, den er als kleiner Knabe häufig an der Hand des Vaters entlanggeschwankt war. Nach gut einstündiger Wanderung gelangte man zu dem Jagdkastell, das ebenso wie die Wälder ringsumher den Edlen von Answer gehörte. In den Jahren, die er als Page auf der Burg von Graf Leonhard verbringen musste, hatte sich Laurenz oftmals ausgemalt, wie er eines Tages nach Hause zurückkehren würde. Stets hatte er sich selbst hoch zu Pferd gesehen, wie er über die Zugbrücke in denBurghof einritt – doch der Geheimgang, der vom Jagdkastell unterirdisch bis in den Burghügel führte, war ihm nie in den Sinn gekommen. Dabei würde alles viel leichter und glatter vonstatten gehen, wenn er unbemerkt von unten ins Burggewölbe eindringen würde, anstatt sich wie ein argloses Rehkitz seinen Jägern zu zeigen.
Geraume Zeit wanderte Laurenz unter dem Blätterdach dahin. Längst hatte die Sonne ihr Netz aus zitternd goldenen Fäden nach ihm ausgeworfen. Der Wald hallte vom Gesang der Vögel wider, und das Gemurmel des Bachs, der neben dem Pfad dahineilte, klang in Laurenz’ Ohren so vertraut, als ob er niemals von hier fortgewesen wäre.
Bald schon erreichte er den kleinen Waldsee, an dem er so manches Mal mit dem Vater gerastet hatte. Die Steinbank stand noch an derselben Uferstelle wie damals, mit einem dicken Moospolster überzogen, und Laurentius ließ sich darauf nieder und blinzelte zwischen den Zweigen der alten Weide hindurch. Schwäne und Enten kamen von allen Seiten
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