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OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger

Titel: OPUS - Die Bücherjäger - Gößling, A: OPUS - Die Bücherjäger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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hinüber. Und dann kletterst du wie ein Eichhörnchen in den Wipfel hinauf. Der Baum ist auch als Heidentor bekannt – der Stamm ist angeblich hohl, mit einem verborgenen Einstieg gerade unter der Krone. Früher sollen die Leute geglaubt haben, dass man durch den Baum hindurch in die Unterwelt der Heidengeister gelangt. Ein törichter Aberglaube – aber als Versteck sollte der Stamm dennoch taugen.«
8
    E
ndlich kam die Tausendjährige
Eiche in Sicht, am rechten Wegrand einige Dutzend Schritte voraus. Im rußfarbenen Abendhimmel schwebte die Silberscheibe des Mondes und davor hob sich der Baumriese ab wie ein urzeitliches Skelett mit einem monströsen Totenschädel und vielerlei flehend oder drohend emporgereckten Armen.
    Hinter ihnen erklang der Hufschlag mehrerer Pferde, die offenbar im Galopp näher kamen, allenfalls eine Meile noch zurück.
    Amos’ Herz klopfte rascher als normal, aber er empfand keine Angst. Sein Verstand arbeitete ruhig, und seine Augen suchten schon nach dem vertrauenswürdigsten Ast, um den er sein Seil gleich schlingen würde. Es war die gewaltigste Eiche, die er jemals erblickt hatte, doch sie schien seit Langem abgestorben. Nur ganz unten sprossen ein paar grüne Zweige aus dem Stamm, und wie die Überreste einer ehemals stolzen Fahne hingen hoch droben in der kahlen Krone drei oder vier halb verwelkte Blätter von dem einzigen Ast herab, in dem noch ein wenig Leben schien. Gleichwohl hatte die mächtige Baumruine bis heute allen Stürmen standgehalten.
    Mit fliegenden Fingern hatte sich Amos das eine Seilende um seine Mitte gegürtet und das andere zu einer Schlinge geknüpft. Sein Bündel mit seinen eigenen Kleidungsstücken hatte er sich über die Schulter geworfen – die Gewänder des Andres Kupferschuhwürde er bei nächster Gelegenheit zurückerstatten oder ersetzen. Für einen erneuten Kleiderwechsel war jetzt keine Zeit mehr und außerdem würde er als wandernder Maurerlehrling weniger Aufsehen erregen.
    Niemand auf dem Wagen sprach ein Wort. Wie Amos selbst schauten auch die Maurer stumm und sichtlich angespannt zur Baumkrone hinauf. Amos ließ das Seil über seinem Kopf wirbeln. Als sie bis auf ein paar Schritte herangekommen waren, schleuderte er die Schlinge in den Wipfel empor, und sie verfing sich an dem knorrigen Ast, den er vorher ausgewählt hatte. Prüfend zog Amos an seinem Seil – der Ast gab ein vernehmliches Ächzen von sich, doch er würde standhalten, das spürte er ganz genau.
    Er richtete sich vollends auf, grüßte stumm zu den Maurern hinab und kletterte dabei schon wieselflink am Seil hinauf. Im Nu saß er oben auf seinem Ast, fünf Schritte über der Erde. Er löste die Schlinge und warf sich das Seil über die Schulter. Sein Atem ging kaum schneller als gewöhnlich. Unten schwankte der Maurerwagen um einen Hollerbusch herum und verschwand nach rechts hin ganz allmählich in der Dunkelheit. Doch viel rascher, als sein Klappern und Rattern leiser wurde, schwoll von links her der Hufschlag der galoppierenden Purpurkrieger zu ohrenbetäubendem Donnern an.
    Amos kroch und balancierte auf seinem Ast zu dem Riesenstamm hinüber. Der war wie ein Turm so gewaltig dick und hoch, aber es war ein urtümliches Lebewesen, in das man hineinkriechen konnte, tausend Jahre alt und beharrlich festgekrallt auf der Schwelle zwischen Leben und Tod. Amos tastete über die raue Borkenhaut. Gerade oberhalb seines Kronenastes wies der Stamm tatsächlich ein Einschlupfloch auf – eben groß genug, dass sich ein schmalwüchsiger Mensch hindurchzwängen konnte. Mit den Füßen voran kletterte er hinein. Düster war es drinnen und die Luft roch modrig – beinahe wie in der Kellergruft auf Burg Hohenstein. Dort hatte er seine Schwester Oda in einem steinernen Sarg hastig bestattet, bevor er hinüber zu Kronus’ Mühlhofgelaufen war. Aber er war zu spät gekommen – alles war bereits niedergebrannt und von Kronus selbst keine Spur mehr.
    Nicht daran denken, mahnte sich Amos, nicht jetzt. So leise wie irgend möglich kletterte er in dem hohlen Stamm abwärts. Er ertastete winzige Vertiefungen, in die er seine Finger krallen konnte oder die seinen Fußspitzen flüchtigen Halt boten. Schließlich spürte er wieder festen Boden unter seinen Füßen – Unmengen von Stöcken (oder was es sein mochte) lagen hier unten am Grund des »Heidentors« verstreut, und der modrige Geruch war atemberaubend.
    Doch im nächsten Moment vergaß Amos ohnehin, weiterzuatmen. Da draußen kamen seine

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