Orangenmond
die größten Chancen, seine DNA zu tragen? Ihr Blick ging über die schmalen Regale, in denen sich alte Schulbücher befanden, und fiel auf einen abgelutschten grauen Stoffhasen, der dem strengen Sauberkeitskodex der Wohnung auf wundersame Weise entgangen zu sein schien. Wenn sie Isa jetzt fragte, ob das Tier auch wirklich aus Elios Kindheit stammte, lenkte sie die Aufmerksamkeit zu stark darauf. Sie bewunderte noch die goldene Uhr und die Manschettenknöpfe, die Elio zur Firmung bekommen hatte und die nach dem Vorzeigen schnell wieder in ihren samtblauen Schachteln verschwanden, dann schloss sich die Kammer der Enkelkinder wieder hinter ihnen. Mitsamt dem Hasen.
Ich kann so was nicht, ich kann so was nicht, dachte Eva, als sie wieder im Salon vor den Kinderfotos stand. Im Film würde ich jetzt in das Zimmer zurückschleichen und den Hasen an mich nehmen, aber im wahren Leben geht das eben nicht so einfach. Mist. Im wahren Leben ist es an der Zeit, sich zu verabschieden, wenn man einigermaßen höflich bleiben will. Der dumme kleine Zufall aus dem Film, der fehlt. Sie nahm die leeren Espressotassen hoch, wie um sie in die Küche zu bringen, als es an der Tür klingelte. Danke, Zufall, du bist großartig! Die Tassen schepperten in Evas Hand.
»Aahhh, das wird die Engländerin sein.« Mamma Isa drückte den Summer.
»Ich bringe die hier eben in die Küche, kann ich dann schnell Ihr Bad benutzen?« Der alte Kriminellentrick.
»Aber sicher, da vorne rechts die Tür!«
Man sollte Elio mal sagen, dass seine süße kleine Mutter viel zu vertrauensselig ist, ging Eva durch den Kopf. Ihr Magen rebellierte, während sie sich den italienischen Satz »ich habe die Türen vertauscht« zurechtlegte.
Als die Engländerin mit ihrem Gepäck endlich die letzten Stufen heraufgekeucht kam, hatte Eva den Hasen bereits entführt und in den Tiefen ihrer Handtasche versenkt.
Kaum stand sie wieder unten auf der Gasse, klingelte ihr Handy. Brockfeldt etwa, mit Ergebnissen? Nein. Georg. Was wollte der denn?
Er berichtete, dass sie gleich schon wieder in Ostuni wären, weil der Wind so heftig gewesen sei, der Sand sei über den Strand gefegt worden, man habe kaum dort liegen kön nen, die Wellen zu hoch, die Strömung gefährlich, rote Fahne.
»Wir holen dich da ab, wo wir dich gelassen haben, okay?«
Okay, natürlich, okay. Die Wut legte sich bleischwer auf ihre Lungen, sie bekam kaum noch Luft! Und heute Abend können wir ja wieder auf die Matratze gehen, oder auch nicht – wie es dir gefällt, Georg!
Sie atmete tief ein. Der Hase beulte ihre Handtasche aus. Mission beendet. Morgen flog sie nach Hause.
»Ich stehe unter der segnenden Hand von Sant’Oronzo!«
29
»Ich habe zwar überhaupt keine Lust drauf, aber Emil hat Hunger, und die Fische müssen irgendwann gemacht werden, Salz haben wir ja nun.« Georg starrte schon seit Minuten in den geöffneten Kühlschrank. Eva nickte, wieder so ein beschissen neutraler Satz von ihm, sie setzte Kartoffeln für Emil auf, der seit Perugia auch keinen Fisch mehr essen mochte.
»Wann fliegst du morgen?«, fragte er.
»14.10 Uhr.«
»Dann nimmst du den Zug um …?«
»10.30 Uhr.« Sie wartete. Worauf eigentlich? Sie wusste mittlerweile doch, dass seine nächtlichen Sprüche bei Tageslicht zerbröselten wie fünf Jahre alte Marderkacke.
»Tja, dann gehe ich doch weg von dir«, sagte sie leise und hätte sich am liebsten geohrfeigt. Natürlich, sie konnte es nicht lassen! Nervös drehte sie das Geschirrhandtuch in ihren Händen.
Georg holte die Fische in ihrer Schüssel aus dem Kühlschrank und schloss endlich die Tür. »Eva, hör mal, also … Was ich da gestern Nacht gesagt habe, das war schon ehrlich gemeint und nicht, um irgendetwas bei dir zu erreichen.«
Wie überaus anständig, aber zum Ziel hat es dich schon gebracht, dachte sie.
»Lass mir nur zwischendurch etwas Zeit, ich muss das alles noch sortieren. Auch mit Emil. Das verstehst du doch?«
»Ja. Verstehe ich.« Seit zehn Jahren verstehe ich alles, dachte sie und spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. »Aber kannst du mich nicht mal heimlich küssen? Mal ein klitzekleines Zeichen geben? Ich fühle mich oft so verloren, zwischendurch ist manchmal ganz schön lang bei dir!«
»Durch solche Forderungen wird es auch nicht schneller gehen.« Er wandte sich ab und kramte lautstark in einer der Schubladen.
Eva schmiss das Geschirrhandtuch neben den Herd und lief aus der Küche. Forderungen! Nur weil sie um ein kleines
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