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Orangentage

Orangentage

Titel: Orangentage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iva Procházková
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aussuchen soll. Auf einmal stürmt Hanka ins Zimmer. Sie muss uns von draußen gehört haben.
    Â»Das Christkind schmeckt am besten«, sagt sie und pflückt eifrig kleine, mollige Christkindfiguren vom Baum. An den Zweigen bleiben Bändchen mit kleinen Fetzen der Stanniolhülle hängen und der ganze Baum bebt.
    Â»Hanka, Schatz, pass doch auf«, ermahnt Frau Bulisova sie mit sanfter Stimme.
    Â»Da, nimm!« Hanka schüttet die abgerissenen Figuren in meine Hände. Einige fallen zwischen meinen Fingern hindurch. Ich bücke mich, um sie aufzuheben, es fallen weitere. Hanka geht in die Hocke und hilft mir, sie aufzusammeln.
    Â»Ich heiße Darek«, stelle ich mich vor. (Eine fast genauso wichtige Anweisung wie »Vergiss nicht, anständig zu grüßen.« ) »Darek Lysko.«
    Â»Weiß ich. Ich kenne dich, du bist mit meinem Bruder befreundet«, sagt sie und beobachtet mich nachdenklich. »Vielleicht könntest du auch mein Freund sein.«
    Ich mustere sie verlegen von der Seite. Sie sagt, sie kennt mich, aber ich habe ihre Existenz bis heute nicht so richtig zur Kenntnis genommen. Ich habe immer nur mit Mischa gespielt – wir brauchten sonst niemanden zum Spielen.
    Â»Ich bin älter«, betont Hanka. Das ist offenbar von höchster Wichtigkeit für sie. »Viel älter! Ich bin schon sieben und zwei Monate. Und du?«
    Â»Sechs«, antworte ich leise, beschämt. Um ihrem Blick auszuweichen, wickele ich ein Christkind aus und beiße ihm den Kopf ab.
    Â»Sechs ist okay«, sagt Hanka wohlwollend. »Ich konnte mit sechs schon lesen. Kannst du lesen?«
    Â»Ein bisschen.«
    Â»Wenn du in der Schule etwas nicht verstehst, dann sag es mir. Ich erkläre es dir.«
    Ich weiß nicht, ob ich mich von ihrem freundlichen Angebot beleidigt oder geschmeichelt fühlen soll. Schließlich entscheide ich mich für die zweite Möglichkeit.
    Â»Kannst du das hier lesen?«, frage ich und zeige auf die winzigen Buchstaben auf der Stanniolhülle.
    Hanka beugt sich darüber. »Hergestellt von Opavia GmbH«, liest sie. »Dort arbeitet mein Vater.«
    Â»Er macht Schokolade?«, frage ich überrascht, denn Mischa hat diese höchst spannende Tatsache nie erwähnt. Wenn ich jedoch im Nachhinein darüber nachdenke, fällt mir ein, dass er immer etwas zum Naschen bei sich trug.
    Â»Er macht keine Schokolade, er ist Manager.«
    Â»Ach so!« Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, dass ich keine Ahnung habe, was das Wort bedeutet. Hanka schaut mich forschend an. Sie kann offensichtlich nicht nur Buchstaben, sondern auch Gedanken lesen.
    Â»Weißt du, was ein Manager ist?«
    Ich schüttele den Kopf.
    Â»Warum fragst du mich dann nicht?«
    Ich schweige. Sie ist so groß, so ungehemmt! Ihre Selbstsicherheit nimmt mir den Rest meines eigenen Selbstvertrauens.
    Â»Manager heißt eigentlich Direktor«, klärt sie mich auf. »Es ist nicht ganz, aber fast das Gleiche.«
    Mir geht ein Licht auf: »Deswegen habt ihr so viele Christkindfiguren!«
    Â»Wir bekommen sie mit Rabatt.« Hanka neigt sich zu mir herüber und flüstert, damit ihre Mutter sie nicht hören kann: »Manche laufen mir nur wegen Süßigkeiten nach! Aber auf solche Blödmänner stehe ich nicht.«
    Â»Ich auch nicht«, stimme ich ihr zu, weil mir nichts Besseres einfällt.
    Â» Mein Freund muss Mut haben«, verkündet Hanka entschieden und ihr Blick bohrt sich so tief in mich hinein, dass ich mich an einem Stück Schokolade verschlucke. Dann geht sie und lässt mich allein zurück. Ganz rot und halb erstickt von der Christkindfigur überlege ich, ob ich eine Chance habe, Hankas Freund zu werden.
    ***
    In der Werkstatt kroch eine Spinne die Wand entlang. Vor dem Kalender blieb sie stehen und zögerte, ob sie eine Abkürzung oder den Weg um den Kalender herum nehmen sollte. Schließlich krabbelte sie auf das April-Blatt mit dem Bild eines Bulldozers. Das war ein Fehler, denn sie lief geradewegs in das Glas, das Hanka sich im nächsten Augenblick samt dem Kalender als Deckel vor die Augen hielt.
    Â»Eine Kreuzspinne«, sagte sie, »eine ganz speckige.«
    Â»Schmeiß sie aus dem Fenster.«
    Â»Ich überlege, ob ich sie nicht töten soll. Weiß du, wie vielen Fliegen ich damit das Leben retten würde?«
    Â»Nur, dass Fliegen kein Glück bringen«, bemerkte Darek und

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