Orangentage
gar nicht weinen kann. Er geht vor Ema in die Hocke, drückt sie an sich.
»Mami ist tot, Ema«, sagt er. Ich sehe ihm an, wie viel Mühe es ihn kostet, eine feste Stimme zu bewahren. »Sie war krank und dann ist sie gestorben. Jetzt tut ihr nichts mehr weh. Wir sollten es ihr gönnen, auch wenn â¦Â«
»Ich gönne es ihr ja«, unterbricht Ema ungeduldig den Vater. Sie zieht ihn an der Manteltasche, reiÃt daran, sie will, dass er aufsteht. »Komm schon! Damit sie die Blumen nehmen kann!«
Wir dürfen aber noch nicht gehen. Vor dem Grab hat sich eine Schlange von Nachbarn und Bekannten gebildet. Einer nach dem anderen tritt an uns heran. Sie haben Dampf vor dem Mund, Schneeflocken sammeln sich auf den Schultern.
»Herzliches Beileid.« Sie schütteln Vater und mir und dem GroÃvater die Hand. Ema streichen sie meist über die Haare. »Sie war so jung ⦠lieb ⦠hat sich so rührend um die Kleine gekümmert ⦠Sie wird uns allen fehlen.«
Es schneit immer mehr. Die Krücken von Herrn Havlik hinterlassen im Schnee zwei Reihen Kuhlen, die wie andere Spuren schnell mit neuem Schnee bedeckt werden.
»Wenn du mal über deine Mutter reden willst, komm zu mir.« Herr Havlik spricht leise, ich muss mich vorbeugen, damit ich ihn höre. »Ich kannte sie besser als alle anderen zusammen.«
»Sie?«, wundere ich mich, »wieso?«
»Weil ich sie lieber hatte als alle anderen zusammen.«
Ema zieht den Vater unglücklich am Mantel, sie möchte gehen. Es ist allerdings noch Marta da. Sie nimmt meine beiden Hände. Ihre Handflächen sind selbst in der Kälte erstaunlich warm.
»Du weiÃt, wo du mich findest«, sagt sie zu mir. Natürlich weià ich es, so wie alle. Sie sitzt im Postbüro: zwei Stunden vormittags, zwei Stunden nachmittags, Samstags geschlossen. »Wenn du etwas brauchst oder mit etwas nicht weiterweiÃt, schau vorbei.«
Ich wüsste nicht, was ich von ihr brauchen sollte, aber ich sage es nicht. Nun tritt sie an den Vater heran, nimmt seine Hände, auch zu ihm sagt sie etwas. Ich kann es nicht hören, weil Ema genau in dem Augenblick losschreit.
»Kommt alle weg! Kommt!!! Weeeeeeg!!!« Sie läuft zum Friedhofstor. Die Arme schlackern noch komischer als sonst um ihren Körper, in der Aufregung stolpert sie und fällt hin. Sie richtet sich sofort wieder auf und dreht sich nach uns um. Ihr Gesicht und ihre Jacke sind voll Schnee, sie stampft wütend auf und schreit so, dass sich ihre Stimme überschlägt: »Kommt! Schnell, kommt schon! Damit sie sie nehmen kann!«
Vater läuft als Erster zu ihr hin, ich gleich hinterher. Wir preschen durch das Tor, Ema ist schon auf der Hälfte des Hügels. Wir holen sie erst bei der Schule ein. Vater packt sie am Kragen, er weià nicht, was er tun oder sagen soll. SchlieÃlich nimmt er sie auf den Arm. Ema schaut an seinem Ohr vorbei auf mich. Hat sie sie schon genommen?, fragen ihre Augen eindringlich. Ich nicke. Das beruhigt sie. In ihrem vor Kurzem noch verzweifelten Gesicht erscheint der Anflug eines Lächelns. Sie legt den Kopf auf Vaters Schulter. Beide Köpfe nun dicht an dicht.
***
Es klingelte zur groÃen Pause. Die Kunststunde, die wegen der hereinströmenden, nach blühendem Wald riechenden Luft sowieso schon aufgelockert war, war endgültig vorbei.
Darek gab seine Arbeit ab (ein nicht gerade gelungenes Selbstporträt), streckte sich vor Erleichterung und ging in den Flur hinaus. Gerade wollte er mit den anderen zum Schulhof hinunterlaufen, als er hinter sich seinen Namen hörte. Er drehte sich um. Dort stand der Englischlehrer und rief ihn mit einer energischen Handbewegung zu sich. Darek steuerte auf ihn zu. Woher kam das plötzliche Interesse an seiner Person? AuÃer in Englisch unterrichtete er die Klasse noch in Erdkunde; keines der Fächer stellte für Darek ein Problem dar.
»Hier ist Besuch für dich«, erklärte ihm der Lehrer, und als er Dareks verständnislosen Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Irgendeine Frau Kotschi.«
»Was will sie von mir?«
»Ihr kennt euch angeblich â vom Familienzentrum in Ostrawa. Sie wartet auf dich in meinem Raum.«
Darek machte sich mit dem Lehrer auf zum Erdkunderaum und versuchte sich das Aussehen von Frau Kotschi ins Gedächtnis zu rufen. Undeutlich erinnerte er sich an zwei Frauen, die regelmäÃig
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