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Orangentage

Orangentage

Titel: Orangentage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iva Procházková
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nicht geweint, verdammt? Ihm blieb jedoch keine Zeit, lange darüber nachzudenken, weil erst Martas Kopf in Sicht kam und schließlich ihre ganze schmächtige Gestalt. Sie trat ganz dicht an Vater heran, und auch wenn sie ihm nur bis zu den Schultern reichte, hinderte sie das nicht daran, sich ihm an den Hals zu hängen.
    Darek drehte sich weg. Mehr wollte er nicht sehen. Er wich von der Tür zurück. Mit klopfendem Herzen tappte er durch den dunklen Gang und dann die Treppe hoch, er eilte, ja, rannte fast. Trotzdem gab er acht, den Stellen auszuweichen, die am meisten knarrten. Er wollte nicht auf sich aufmerksam machen. Er wollte nicht, dass sie von seiner Anwesenheit wussten und fragten, was er gesehen und gehört hatte, was er darüber dachte. Das ging sie nichts an. Er würde das nächtliche Bild im Kopf behalten, es die nächsten Tage mit sich herumtragen. Und jedes Mal, wenn er Vater oder Marta sah, jedes Mal, wenn sie wie zwei ganz gewöhnliche Bekannte miteinander redeten, die nur Nachbarschaft und gelegentliche Hilfeleistungen verband, würde er wissen, dass sie sich verstellten. Er würde ihnen nicht mehr glauben.
    ***
    Es schneit. Eisige Schneeflocken landen auf meiner Nase, auf meiner Stirn, fallen mir in den Kragen und fallen auch in Mutters Grab. Vater steht neben mir, fasst mich um die Schultern, mit dem anderen Arm drückt er Ema an sich.
    Â»Im Namen des Allmächtigen, der alles geschaffen hat … die in deiner Gnade aus dieser Welt geschieden …«, höre ich den Pfarrer beten, verstehe aber nur vereinzelte Wörter, den Rest trägt der Wind in die Weite. Vaters Stimme dagegen ist nah und deutlich.
    Â»Du musst nicht zuhören«, flüstert er mir ins Ohr. »Denk an Mutter so, wie du willst. Ohne den Pfarrer-Schnickschnack.«
    Alles, was mit Kirche zu tun hat, ist für Vater Schnickschnack. Soweit es mich angeht, stört mich die Anwesenheit des Pfarrers überhaupt nicht. Ich weiß, dass Mutter es sich so gewünscht hat. Ich versuche seiner Rede nicht nur akustisch zu folgen, ich würde sie gern auch von innen verstehen, unter der Hülle der Wörter.
    Â»â€¦ gib, dass wir trotz unserer Trauer danken können … öffne unser Herz, Herr … vergib ihr die Sünden und gedenke … tröste die Hinterbliebenen … vermehre ihren Glauben … dass wir uns im Reich Gottes wiedersehen.«
    Dem immer stärker werdenden Druck von Vaters Hand auf meiner Schulter nach zu urteilen, ist klar, dass er mit nichts, was der Pfarrer sagt, einverstanden ist. Er wünscht sich nicht, getröstet zu werden oder dass jemand sein Herz öffnet. Ihn empört, dass er sich für seine Trauer bedanken soll. Ihm widerstrebt, sich beraten zu lassen, mit wem er sich wo nach dem Tode wiedersehen soll. Das Gebet prallt an Vater ab wie gefrorener Schnee. Sein Glaube wird bestimmt nicht vermehrt werden, da kann ich Gift drauf nehmen.
    Â»Werden wir noch singen?«, fragt Ema den Großvater, der neben ihr steht.
    Â»Jetzt nicht mehr«, höre ich ihn antworten. »Wir haben schon gesungen, jetzt gibst du Mama die Blumen.«
    Wir legen die Rosen und Nelken, die Opa aus Ostrawa mitgebracht hat, auf den Rand des Grabes. Rote und rosa Blüten sehen auf dem Schnee schutzlos, verfroren aus. Ema zieht mich am Ärmel.
    Â»Wann nimmt sie sie?«, fragt sie.
    Â»Wer?«
    Â»Mama.«
    Â»Wen soll sie nehmen?« Ich verstehe nicht.
    Â»Die Blumen. Sie lässt sie doch nicht erfrieren.«
    Ich weiß nicht, was ich antworten soll, aber mir ist klar, dass Ema dieselbe Frage Vater stellen wird, wenn ich schweige. Ich kann mir seine Antwort vorstellen, Emas Enttäuschung.
    Â»Mama nimmt sie, wenn wir weg sind«, flüstere ich ihr ins Ohr.
    Â»Warum?«
    Â»Damit wir sie nicht sehen.«
    Wenn sie jetzt noch einmal »Warum?« fragt, weiß ich nicht mehr, wie ich da rauskommen soll. Aber sie fragt nicht, sie schaut mich nur an. Dann blickt sie wieder zum offenen Grab. Den zusammengezogenen Augenbrauen nach zu urteilen, denkt sie angestrengt nach. Plötzlich hellt sich ihr Gesicht auf.
    Â»Mama will, dass wir denken, dass sie tot ist, stimmt’s?«, stößt sie hervor, froh, dass sie eine Erklärung gefunden hat.
    Vater dreht sich um. Verkrampft presst er die Lippen aufeinander, er hat Tränen in den Augen. Es überrascht mich. Bis zu diesem Augenblick dachte ich, dass er

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