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Orangentage

Orangentage

Titel: Orangentage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iva Procházková
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es vor Frau Kotschi und anderen Leuten leidenschaftlich leugnen, innerlich wusste er jedoch, dass es stimmte, und das quälte ihn. Weder er noch der Vater überschütteten Ema mit dem Lob, der Zärtlichkeit und der Aufmerksamkeit, die sie gebraucht hätte. Sie konnten es nicht – im Gegensatz zu Mutter. Und im Gegensatz zu Opa. Der war immer liebevoll zu Ema.
    Â»Na, so was! Du gärtnerst hier bei mir?«, wunderte er sich, als sie am Anfang der Ferien bei ihm zu Besuch waren und Ema in einem unbeaufsichtigten Augenblick seine geliebten Kakteen ausgiebig mit schäumendem Spülwasser begossen hatte. Darek erstarrte. Voller Spannung wartete er darauf, was Opa tun würde. Als alter Kakteenzüchter wusste er natürlich, dass Emas Aufguss seinen Lieblingen den Tod bringen würde oder zumindest eine Vergiftung. Trotzdem zeigte er seine Gefühle nicht. Er strich Ema über die Haare, so wie es Mutter getan hätte, lächelte sie durch die Faltenfächer an und sagte freundlich: »Du bist aber lieb, man sieht, dass du Blumen sehr gerne magst.«
    Opa war alt und Mutter tot. Daran konnte man nichts ändern, Gedanken darüber waren Zeitverschwendung. Darek wusste, dass er zwei Möglichkeiten zur Auswahl hatte: Entweder im Familienzentrum anrufen und sich eine Ausrede einfallen lassen, oder sich zu beeilen und den besten Eindruck auf die Sozialarbeiterinnen zu machen. Die erste Alternative schien ihm feige. Ein wenig wie die Flucht vor Kawamuras Linie. Im Gegensatz zur Schlacht von Shiroyama hatte Darek in diesem Augenblick zwar kein Full Health – er hatte vor dem feindlichen Feuer überhaupt keine Deckung –, gleichzeitig aber war es die einzige Chance, magische Artefakte und Skillpoints zu sammeln und in das nächste Level zu kommen. Wie Mischa sagte, es ging nicht darum, den Sieg zu genießen, sondern darum, sich nicht in die Hose zu machen. Niveau zu behalten.
    Â»Ema!«, rief Darek wieder und machte sich auf zum Hühnerstall. »Beeil dich!«
    Â»Ich füüüttere!«
    Â»Streu ihnen alles auf einmal hin und komm, ich habe eine super Idee! Wir machen einen Ausflug nach Ostrawa, willst du?«
    Â»Zu Fuß?«
    Â»Mit dem Zug. Aber wir müssen ihn kriegen, also schnell!«
    Ema kippte den Rest der Körner vor den Hühnerstall, warf die Schüssel auf den Boden und lief zu Darek.
    Â»Suuuper, Ausflug!«, trällerte sie und stolperte über die rutschende Hose. »Suuuper, mit dem Zug!«
    Er fasste sie an den Händen und schwang sie sich auf den Rücken. Klar gab es Millionen Pflegefamilien und Einrichtungen auf der Welt, die vor total geduldigen Menschen nur so wimmelten, dachte er, während er Ema unter ihrem begeisterten Gekreische wie einen Sack heimtrug. Klar würden sie sich perfekt um Ema kümmern und alles einwandfrei machen. So wie es sich gehörte. So wie es in pädagogischen Lehrbüchern stand. Nur hatten alle diese Fachleute einen Makel: Keiner von ihnen war Emas Bruder oder Emas Vater. Keiner von ihnen hatte Emas Nabelschnur durchtrennt. Keiner hatte sie im Arm gehalten, als sie zehn Minuten alt war. Als sie ein Wunder war.
    ***
    Der Kreißsaal hat eine Tür aus milchigem Glas, die Mutter liegt in dem geheimnisvollen Raum dahinter. Ich kann nicht abschätzen, wie lange. Sie ist auf einer Liege, die von einem Krankenpfleger mit grüner Mütze geschoben wurde, hineingeschwebt. Vater ging nebenher, auch er hatte eine Mütze bekommen und einen Kittel musste er anziehen. Der war ihm um die Schultern herum zu eng, die Schnürchen ließen sich nicht zubinden. Bevor er verschwand, zwinkerte er mir zu. Von da an scheint die Zeit nicht weiterzugehen. Ich bin schon ein paarmal auf Opas Schoß eingeschlafen und wieder aufgewacht. Der Gang ist mit Leuchtstoffröhren beleuchtet, das helle Licht brennt selbst durch die geschlossenen Lider. Ich verkürze mir die Zeit mit der Beobachtung der digitalen Uhr. Die Ziffern wechseln mit schmerzhafter Langsamkeit, die sich kaum aushalten lässt.
    Â»Mädels lassen immer auf sich warten«, sagt Opa. Er geht zum Automaten an der Treppe, wirft ein paar Münzen hinein, bringt mir Schokolade. »Iss, um deine Batterien wieder aufzuladen.«
    In der Nacht Schokolade zu naschen, ist etwas Unerhörtes. Ich genieße die Besonderheit. Ich breche die Tafel in Reihen, die Reihen in Stückchen. Opa nimmt auch zwei, er lädt auch

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