Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Orangentage

Orangentage

Titel: Orangentage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iva Procházková
Vom Netzwerk:
auf.
    Endlich geht die Tür des Kreißsaals auf, die Spiegelung des Lichts im milchigen Glas macht einen Schwung wie auf einer Schaukel.
    Â»Das Baby ist da!«, verkündet uns die Krankenschwester lachend. »Sie wiegt zwei Kilo neunzig und ist neunundvierzig Zentimeter lang.«
    Â»Ist das viel oder wenig?«, frage ich.
    Â»Genau richtig. Wollen Sie sie sehen?«
    Â»Dass Sie noch fragen!«, staunt Opa. »Wenn wir schon so lange gewartet haben, wollen wir das Wunder natürlich sehen!«
    Die Krankenschwester hilft uns, die Kittel anzuziehen. Meiner ist so lang, dass ich darüber stolpere. Ich muss ihn halten wie eine Prinzessin ihre Schleppe. Wir gehen zum Waschbecken, waschen und desinfizieren uns die Hände. Dann sind wir endlich bereit für Ema. Wir betreten ein schmales Zimmer. Hier gibt es keine Leuchtstoffröhren, nur ein kleines Bettlämpchen. Die Mutter schläft, ihre Haare hat sie mit zwei Gummis über den Ohren zusammengebunden. Es sieht lustig aus, ich muss lachen. Sie sieht aus wie Vendulka, ein Mädchen mit Zöpfen aus meinem Kindergarten. Opa setzt sich zu ihr, nimmt ihre Hand.
    Â»Komm her, Darek.« Vater nickt mir zu. Er steht am Fenster und hält im Arm einen Brotlaib, eingewickelt in eine bunte Decke. Ich kenne sie – Mutter hat den ganzen Sommer daran gehäkelt. Plötzlich bewegt sich die Decke und ein roter Schopf guckt heraus. Ich halte den Atem an.
    Â»Ist das das Wunder?«, frage ich, weil mir erst jetz klar geworden ist, dass der Brotlaib meine Schwester ist. Vater hockt sich hin, zeigt mir Ema aus der Nähe. Sie ist ganz rot, sowohl das Gesicht als auch die Haare.
    Â»Gefällt sie dir?«
    Â»Sie sieht aus wie du, Papa«, sage ich ausweichend. »Nur die Sommersprossen fehlen.«
    Der Vater streichelt Ema mit dem Zeigefinger über die Wange. Um sein Handgelenk windet sich ein Bächlein getrockneten Blutes. Ich erschrecke.
    Â»Hat sie dich gebissen?«
    Â»Womit denn, bitte? Das ist nicht mein Blut, sondern ihres. Ich habe ihre Nabelschnur durchgeschnitten.«
    Â»Darf man das?«
    Â»Das muss man. Sie wird doch nicht für immer an die Mutter gekettet bleiben, wie der Gajdoschikov’sche Hund an seine Hütte. Mama hat sie neun Monate lang getragen, jetzt muss sie sich ausruhen. Jetzt kümmern wir uns um Ema. Willst du sie mal auf den Arm nehmen?«
    Mit einem Wunder muss man höchst vorsichtig umgehen, das ist ja klar. Ich habe Angst, etwas falsch zu machen, aber ich lasse mir nichts anmerken. Vater legt mir Ema in die krampfhaft vorgestreckten Arme.
    Â»Beuge die Ellbogen ein wenig«, empfiehlt er. »Und halt sie gut fest!«
    Ich halte sie, bis mir die Augäpfel aus den Höhlen treten. Ema hat keine Augen, nur kleine Striche, gesäumt von Wimpern, die wie Raupenhärchen aussehen und kaum merklich zucken. Sie wärmt mich, selbst durch die Decke fühle ich ihre Wärme. Und ihr Gewicht. Zwei Kilo neunzig ist vielleicht genau richtig, aber meine Arme fallen schon fast ab. Ich stütze sie von unten mit dem linken Knie. Dann mit dem rechten. Dann halte ich sie eine Weile wieder einfach so. Vater und Opa beobachten mich und ich lächle sie an. Ich will nicht verraten, dass ich nicht mehr kann. Dass Ema schwer ist. Ich werde sie halten, bis sie sie mir wegnehmen.
    ***
    Zuerst hallte das Pfeifen aus dem Tal zu ihnen herüber, dann sahen sie den Zug. Die Lok setzte sich in Bewegung und die kurze Zuggarnitur fuhr langsam aus dem Bahnhof. Ema blieb stehen.
    Â»Abgefahren!«, stieß sie den Rest des Atems aus und blickte bedauernd dem Zug hinterher.
    Â»Siehst du, ich habe es dir gesagt!« Darek kickte einen Erdklumpen am Wegrand weg, er flog in die Höhe und zerfiel in Stücke. »Wir haben ihn verpasst! Um eine Minute, maximal um zwei!«
    Alle drei Waggons zeichneten die fallende Kurve nach und tauchten einer nach dem anderen in den Wald ab. Wieder ertönte ein Pfeifen, dieses Mal länger, entfernter.
    Â»Wenn du nicht so getrödelt hättest, hätten wir ihn kriegen können!«
    Ema widersprach nicht. Ihr Gesicht war vor Enttäuschung verzerrt, sie blickte schweigend zu dem Punkt, wo der Zug ihrem Blick entschwunden war.
    Â»Mist!«, fluchte Darek noch einmal. In der Nähe war nichts Geeignetes mehr, was man hätte wegkicken können, also stieß er zumindest die Hände in die Hosentaschen. Die rechte hatte ein kleines Loch, wütend

Weitere Kostenlose Bücher