Orangentage

er das nur vergessen können? Er biss sich auf die Lippen. Gestern Morgen bei der Behandlung von Krokants Hufen hatten sie noch über die Fahrt nach Ostrawa gesprochen. Vater hatte sich über das Schriftstück geärgert und hätte es am liebsten ignoriert. Aber beide wussten, dass das keine Lösung war. Ob sie wollten oder nicht, sie mussten den Termin wahrnehmen. Er war für halb zwölf angesetzt. Vater sagte, sie würden ein wenig früher losfahren, weil man mit Stau rechnen müsse und auch damit, dass sie das Familienzentrum nicht sofort fanden.
    Darek blickte auf die Uhr. Es war ein paar Minuten nach neun. Er kramte schnell in seinem Gedächtnis: Um neun Uhr fünfunddreißig fuhr der Zug nach Bruntal, dort könnten sie den Bus erwischen, um elf waren sie in Ostrawa. Darek schaltete die Herdplatte aus. Sie mussten sich ganz schön sputen – kein Frühstück, kein lecker Honig, nichts!
    Er sprang zur Tür, um Ema zu rufen. Sie durften keine Zeit verlieren! Er würde Ema beim Anziehen helfen, er selbst würde sich ein sauberes Hemd schnappen, Geld für Fahrkarten aus der Schublade holen und möglichst schnell zum Bahnhof laufen. Er durfte den Kamm nicht vergessen, damit Ema sich im Zug kämmen konnte.
    Plötzlich hielt er inne. Selbst wenn sie den Zug erwischten und rechtzeitig im Amt ankamen, wäre noch nichts gewonnen. Frau Kotschi hatte es doch deutlich gesagt. Ihr und ihren Mitarbeitern ging es vor allem darum, mit dem Vater zu reden. Sie wollten sich ein Bild von seinem Leben machen, von seiner Verantwortung, von seinem Alkoholkonsum. Wenn Darek allein mit Ema zu dem Treffen erschien, würde es wahrscheinlich nur den Verdacht bestärken, den man im Zentrum hegte. Sie würden den lebendigen Beweis dafür liefern, dass auf Vater kein Verlass war. Dass er kein Interesse an seinen Kindern hatte. Und wenn Darek auch noch erklärte, was gestern geschehen war, würde das dem Ganzen die Krone aufsetzen. Die Tatsache, dass er ohne Aufsicht auf einem Pferd geritten war, dass das Pferd ihn abgeworfen hatte und entlaufen war, wäre nur ein weiterer Beweis für Vaters Leichtfertigkeit. Was hatte Frau Kotschi im Erdkunderaum erzählt? » Wenn sich die familiären Zustände verschlechtern, können wir den Kindern helfen, indem wir einen Platz in einer Pflegefamilie oder einer entsprechenden Einrichtung finden.« Ja, so hatte sie es gesagt, Darek erinnerte sich genau an ihre Worte. Sie war sachlich und unpersönlich gewesen: » Wenn dein Vater auch dieses Mal nicht reagiert, müssen wir entsprechende Schritte einleiten.«
    Darek drehte den Kopf zum Hühnerhof. Man hörte lautes Gegacker und Emas Stimme von dort.
    Â»Put … put … put … put! Hier hast du!« Sie streute den Hühnern Gerste hin und sprach dabei zu ihnen. Die fetteste Henne scheuchte sie mit großen roten Lappen weg. »Du, hau ab, du Vielfraß! Du verschlingst immer alles alleine!«
    Das Pyjamajäckchen hatte sie nur mit einem Knopf zugemacht, ihr Hosenbein schleifte am Boden, die Pantoffeln hatte sie längst irgendwo verloren. Sie trat barfüßig in der Hühnerkacke herum und scheuchte die selbstsüchtige Henne mit der Schüssel weg, aus der das Korn herausfiel. Ihre roten Haare, die in den letzten Monaten unkontrolliert gewachsen waren, flogen nicht nur um ihren Kopf, sondern verdeckten auch ihr Gesicht. Ihre Augen waren kaum zu sehen. Sie erinnerte Darek an das Bild des Räubermädchens in dem Buch mit Andersens Märchen.
    Â»Ema!«, rief er ihr zu. Sie hörte nicht. Sie war vollkommen ins Füttern vertieft.
    Â»Ksch, ksch!«, kreischte sie und stampfte mit solcher Wucht auf, dass ihr die Hose halb herunterrutschte. »Geh weg! Lass den anderen auch was über!«
    Darek runzelte die Stirn und schluckte, um die Bitterkeit loszuwerden, die sich ihm beim Anblick der Schwester im Hals festsetzte. Er hatte Ema nie als Fall betrachtet. Er war an sie gewöhnt und manche ihrer Merkwürdigkeiten weckten eher Belustigung in ihm als Mitleid. Je älter sie aber wurde, desto mehr verging ihm das Lachen. Immer öfter ertappte er sich bei der Frage, wie es weitergehen sollte. Seit Mutter sich nicht mehr um Ema kümmerte, nicht mehr tausendmal mit ihr die erlernten Fertigkeiten wiederholte, ihr nicht mehr vorlas, ihr die Welt nicht mehr erklärte, stockte die Entwicklung der Schwester. Darek konnte