Orchideenstaub
die beiden an, als würde sie keinen Widerspruch dulden. „Ich habe so selten Besuch hier, tun Sie mir den Gefallen und bleiben Sie heute abend meine Gäste. Ich habe zwei Gästezimmer und Sie werden hier im Wald so gut schlafen wie noch nie, das verspreche ich Ihnen.“
Wieder setzte sie ihr charmantes Lächeln auf und Sam willigte ein. Das Wochenende stand vor der Tür, und wenn sie morgen früh zurück nach Paris fahren würden, reichte das auch.
Juri war ebenfalls ganz seiner Meinung und nippte bereits genüsslich an dem Wein.
Gegen Abend versuchte Sam Inspector Germain zu erreichen, den sie auf dem Rückweg nach Paris noch einmal besuchen wollten. Im Wald gab es tatsächlich keine Verbindung, weshalb er ein Stück in den Ort hineinfuhr. Ein kleiner, gemütlicher französischer Ort mit einer kopfsteingepflasterten Altstadt und Häusern aus dem 19. Jahrhundert. Aber Germain hatte nur seine Mailbox an.
Sam war zufrieden, die Reise hierher hatte sich gelohnt. Endlich sah er ein Fortkommen in dem Fall. Mit den Namen auf dem Foto würden sie vielleicht verhindern können, dass es weitere Opfer gab. Vorausgesetzt sie arbeiteten schnell und machten den Vorsprung wett, den der Mörder mit seinem Wissen hatte.
25.
KOLUMBIEN Der Morgen graute und der Nebel lag noch verschlafen auf den Bergen und Tälern als Lea um halb sechs Uhr morgens ins Heim fuhr. Sie wollte sich in Ruhe im Büro ihres Bruders umsehen und das ging besser, solange das ganze Personal noch nicht im Einsatz war. Vielleicht würde sie hier fündig werden, was das Geheimnis anlangte.
Das hohe Tor öffnete sich automatisch mit ihrer Fernbedienung. Langsam fuhr sie die Auffahrt hoch, die durch die große Parkanlage führte, direkt bis vor das weiße Gebäude, das man von der Straße nicht einsehen konnte. Zwischen den Büschen lugte ein Kopf mit einem Hut hervor, der Gärtner, der in seine Arbeit vertieft war.
Sie parkte ihren Wagen und betrat leise wie ein Eindringling das Gebäude. Sie selbst schaute nur zwei Mal die Woche hier vorbei, untersuchte die Behinderten und wechselte ein paar Worte mit ihnen, ansonsten hatte sie ihre eigene Praxis in der Clínica Medellin . Schon als kleines Kind hatte sie Ärztin werden wollen und entschied sich noch während des Abiturs, dass sie sich auf Erbkrankheiten und besondere Behinderungen nach Geburtstraumen spezialisieren wollte.
Mit einem Zweitschlüssel, den sie sich gestern im Haus ihrer Eltern während des täglichen Treffens zum Mittagessen geholt hatte, öffnete sie Rafaels Büro. Ein Blick nach rechts und einen nach links. Kein Mensch war auf dem langen Gang zu sehen und so konnte sie unbemerkt hineinschlüpfen.
Ihre Augen gewöhnten sich schnell an das Halbdunkel im Büro. Typisch, dachte sie, Rafael war schon immer unordentlich gewesen. Sein Schreibtisch brach beinahe unter einem Berg von Akten und Papieren zusammen. Sie setzte sich in den braunen Ledersessel und drehte sich langsam hin und her. Niemand sonst, außer Rafael, hatte Zutritt zu seinem Büro. Es war also ein sicheres Versteck für Geheimnisse.
Es wurde jetzt schnell hell und die Gegenstände im Raum nahmen klare Formen an. Vor ihr lag Rafaels Kalender. Sie blätterte ihn durch. Ein paar Eintragungen von seinen Terminen in Europa über zwei Wochen. Barcelona, Paris, Florenz, Wien und Berlin. Nichts Außergewöhnliches. Wo war der Terminkalender vom letzten Jahr? Sie ging alle Schubladen durch und wurde in der untersten fündig. Dunkelblau mit goldenen Lettern drauf, ein Geschenk der Krankenkasse, das jedes Jahr zu Weihnachten verschickt wurde. Dieser war voller Notizen, manche kaum zu entziffern. Name, Kreuz, Name Kreuz, Name Kreuz … fast jeden Monat hatten sie ein oder zwei Todesfälle im Heim zu bedauern. Etwas ungewöhnlich für ein Pflegeheim für Behinderte, dachte sie und arbeitete sich durch den Stapel Krankenakten. Nur der letzte Todesfall lag darunter.
Alfonso Villegas. Sie konnte sich noch sehr gut an den kleinen Jungen erinnern. Kind einer Inzestehe. Acht Jahre. Diagnose: ß-Thalassämie. Sein Skelett war durch die erlittenen Anämien verbogen gewesen. Die Eltern hatten schließlich das Geld für die Pflege nicht mehr aufbringen können und ihr Kind nicht mehr besucht. Zwei Monate später war es gestorben. Woran, das stand hier nicht. Das Kind war jeden Monat auf Bluttransfusionen angewiesen gewesen, damit genügend Sauerstoff transportiert werden konnte, außerdem brauchte es Medikamente um die
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