Ordnung ist nur das halbe Leben
besondere Verbindung spüre«, unterbrach sie und sah mich warm an.
»Danke«, sagte ich. »Wenn ich denn jetzt auf den Sessel …«
»Schschsch«, machte sie wieder, und ich überlegte langsam, ob ich sie nicht mit ihrem Perlengürtel erwürgen sollte.
»Wir begrüßen nun die Sonne und den neuen Tag und werden eins mit dem Universum!« Sie legte bedeutsam die Hände vor ihrer Brust zusammen und verbeugte sich leicht vor mir. »Du bist eingeladen, mit mir mein Morgenritual zu vollziehen zum Öffnen der Chakren. Und zur Nahrungsaufnahme.«
»Oh ja, ein Brötchen könnte ich jetzt wirklich vertragen«, sagte ich.
»Feste Nahrung brauchen wir nicht«, behauptete Gool. »Das Licht ist unsere Nahrung!«
Heiliger Zitronenstrauch! Ich hatte ja nicht ahnen können, dass sie mit dem Geschwafel von ihrer »produktivsten Zeit zum Sonnenaufgang« die Produktion von geistigem Dünnpfiff meinte. Eines war mal klar: Wenn ich jetzt mit der bekloppten Alten Gymnastik machen musste und sie dann erst anfing, den Sessel zu reparieren, dann würde ich meinen Flug niemals erwischen. Aber wenn ich nicht tat, was sie wollte, würden sie und ihre Chakren sich vielleicht weigern, mir zu helfen. Es blieb mir also nichts anderes übrig, als einfach mitzumachen. Natürlich dürfte niemand hiervon etwas erfahren. Jeder würde denken, dass ich doch genau so verrückt war wie meine Eltern.
Ich verbeugte mich ebenfalls. »Ich danke dir.«
Gool schloss die Augen, und ich tat es ihr nach. Die Sonne leuchtete hell durch meine Augenlider. Wenn Ellen und Saskia mich jetzt sehen würden! Ich musste ein Lachen unterdrücken.
»Denk an nichts«, sagte Gool mit sanfter Stimme. »Erspüre die Sonnenstrahlen. Jede Zelle deines Körpers öffnet sich und nimmt Licht auf, trinkt das Licht, labt sich an Schwester Sonne!«
Ich biss mir auf die Lippen, um nicht lachen zu müssen.
»Konzentriere dich auf deine Atmung«, raunte Gool. »Atme tief ein und aus.«
Ich schnaufte ein paarmal vor mich hin, um ihr zu zeigen, wie engagiert ich bei der Sache war. Gool fing an, eine leise Melodie zu summen, die nach einer Weile anschwoll, sodass ich erkennen konnte, dass es sich um ein gesungenes Mantra handeln musste. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die mich stark an das ermüdende Kanonsingen von Bruder Jakob in der katholischen Ferienfreizeit erinnerte, ließ sie ihre Stimme abebben.
Gerade als ich dachte, jetzt hätte ich es überstanden, sagte Gool: »Und jetzt öffnen wir unser Wurzel-Chakra und spannen die Muskeln an, die zwischen Anus und Scheide liegen.«
»Na, endlich«, rief Saskia und ließ die Nagelfeile sinken. »Was hast du so lange gemacht?«
»In der Zeit, in der du weg warst, hat Fritz schon fast laufen gelernt«, nörgelte Ellen, die auf einem Stuhl saß und Fritz an den Händen hielt, sodass er auf seinen dicken, krummen Beinchen stehen konnte.
Ich verdrehte die Augen. »Ihr glaubt es nicht! Ich musste Morgengymnastik mit ihr machen«, flüsterte ich bebend. »Und jetzt kenne ich Muskeln in meinem Körper, von deren Existenz ich nicht mal etwas geahnt habe. Aber dadurch ist es mir gelungen, Sonnenlicht in Energie zu transformieren, und jetzt bin ich auf einem guten Weg, jeder festen Nahrung abzuschwören und mich künftig nur noch von Licht zu ernähren.« Ich musste hysterisch kichern.
»Bist du irre geworden?« Saskia beäugte mich skeptisch.
»Ich nicht, aber sie auf jeden Fall«, sagte ich vergnügt und wunderte mich selbst, dass ich so gut drauf war. Lag vielleicht doch an dieser speziellen Gymnastik.
»Und was ist mit dem Sessel?«, fragte Ellen.
»Keine Ahnung. Dazu hat sie noch nichts gesagt. Psst, da kommt sie.«
Gool erschien in dem Empfangsraum. Sie hatte sich einen weißen Overall angezogen, wie sie auch Maler trugen, und die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie sah auf einmal aus wie ein normaler Mensch. Sie winkte mich zu sich, und ich rollte den Sessel auf dem Transportwagen zu ihr.
»Viel Glück«, rief Ellen mir hinterher.
In ihrem Atelier betrachtete Gool eingehend den Fleck.
»Wie lange wird die Reparatur wohl dauern?«, fragte ich.
»Das ist Kirschsaft, oder?«, fragte sie, und jede esoterische Schwingung war aus ihrer Stimme verschwunden.
»Ja.«
Sie ging zu einem Holzschränkchen, das auf einem Bord an der Wand stand, und kramte darin herum. Kurz darauf kam sie mit einer kleinen, braunen Flasche wieder, in der eine Pipette steckte. Sie zog eine gelbbraune Flüssigkeit in die Pipette und
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