Ordnung ist nur das halbe Leben
Wusste Höveler schon, dass ich gerade eine sechsstellige Summe unserer Kundengelder verloren hatte?
Sören zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Er wandte tatsächlich sein schmales Gesicht von seinen Monitoren ab und sah mich an. Und zwar so, als hätte er mich noch nie gesehen – was er tatsächlich ja auch lange nicht hatte, denn er starrte ja sonst immer nur auf den Computer. »Willst du eines?« Er hielt mir seine Plastikbox Marshmallows hin.
»Nein, danke.«
»Na gut.« Er warf sich noch eines dieser klebrigen Süßigkeiten in den Mund. »Dein Hund mochte die übrigens gerne.« Er wandte sich wieder seinen Monitoren zu.
»Mein Hund? Du hast meinen Hund gesehen?«
»Oder war das ein Bär?« Er kicherte wieder, als wäre es witzig, Banjo mit dem Bären, dem Zeichen für anhaltende Kursverluste, zu vergleichen.
Ich schaute unter meinen Tisch. Banjo war weg.
»Wo ist er?«
»Wer?« Sören war schon wieder in seine Kurse vertieft.
»Na, mein Hund!«
»Woher soll ich das wissen? Solange er keine Aktiengesellschaft gründet, interessiert es mich auch nicht.«
»Mann, Sören, du bist ja heute ein richtiger Witzbold!«, zeterte ich. Dann machte ich mich auf die Suche nach Banjo.
So ein Mist! Normalerweise konnte ich mich darauf verlassen, dass er dort wartete, wo ich ihn zurückließ. Dieses untypische Verhalten kam bestimmt von den vielen Aufenthalten bei meinen Eltern. Die hatten ihn mit ihrem offenen Tor und den vielen Möglichkeiten für Entdeckungsreisen in ihrem Hof total verwirrt. Und wenn Matthias Wulf Banjo begegnete, dann würde ich ein echtes Problem bekommen. Und das ausgerechnet jetzt, wo ich gerade fünfhunderttausend Euro unserer Kunden versenkt hatte. Da konnte ich es nicht gebrauchen, auch noch anderweitig negativ aufzufallen.
Unauffällig eilte ich hektisch durch die Flure. Zuerst schaute ich in der Küche nach, in der Hoffnung, Banjo machte sich über eine angebrochene Kekspackung oder sonst etwas Essbares her. Aber da war mein Hund nicht. Die meisten Bürotüren waren geschlossen, und Klinken öffnen konnte er noch nicht. Also konnte er nicht weit sein, dachte ich. Auf der anderen Seite war er ein cleveres Kerlchen. Ihm wäre zuzutrauen, dass er in den Aufzug stieg und runterfuhr.
Da sah ich eine offene Tür – und zwar die zur großen Terrasse. Sie war nur angelehnt. Na klar, dachte ich erleichtert – er ist mal an die frische Luft gegangen. Hoffentlich hat er nicht einen dicken Haufen in irgendeine Ecke gesetzt. Vorsichtig schlich ich mich hinaus. Falls hier gerade einer meiner Kollegen eine Rauchpause machte, musste ich ihm ja nicht unbedingt in die Arme laufen. Es war tatsächlich möglich, sich auf dieser Terrasse nicht zu begegnen, denn sie war gigantisch groß und nach links und rechts verzweigt. Große Kübel mit dichtem, hohem Bambus standen geschickt um Gruppen von wetterfesten Sesseln und Tischen verteilt und boten viel Sichtschutz. Winterharte Palmen und anderes Gestrüpp bildeten weitere Nischen, wo im Sommer auch schon mal Besprechungen stattfanden.
Ich pfiff leise die kurze Melodie, auf die Banjo sonst immer hörte, solange er nicht gerade ein Kaninchen aufgespürt hatte. Nichts. Ich ging links rum. Dort befand sich am Ende ein kleiner Wasserteich mit Goldfischen. Und da entdeckte ich ihn! Banjo stützte die Vorderpfoten auf die Teichumrandung, wedelte mit dem Schwanz und beobachtete aufmerksam das Treiben in dem klaren Wasser. Ich ging schnell zu ihm und schimpfte leise mit ihm. Meine Standpauke beeindruckte ihn gar nicht. Er lief noch ein bisschen weiter um den Teich herum, hinter einen großen Farn, dessen leuchtend grüne Blätter fast bis ins Wasser hingen. Ich hockte mich neben ihn, und gemeinsam betrachteten wir eine Weile die Fische, die elegant hin und her schwammen.
Plötzlich hörte ich eine Stimme. Aus einem Reflex heraus duckte ich mich tiefer unter den Farn und packte Banjo noch etwas fester, damit er mir nicht ausbüxen konnte.
Es war Ilja. Er ging rauchend und telefonierend auf und ab und war ganz versunken in sein Gespräch.
»Oh, Tom, das ist sehr interessant, wirklich. Also die Genehmigung wurde erteilt? Obwohl es Landschaftsschutzgebiet ist? … Wann wird denn darüber entschieden? … Mmmhh. Verstehe. Also müssen wir auf jeden Fall vorher kaufen … Ja, klar … Die Grundstückspreise schießen ja sofort danach in die Höhe … Äußerst begehrte Lage … Natürlich wirst du beteiligt, wie immer, ist doch klar … Ja, gut, halt mich auf
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