Orphan 2 Juwel meines Herzens
Schloss aufschnappen lassen - so manche reiche Familie schloss des Nachts die Fenster ab, seit der Schatten sein Unwesen trieb, trotz der Hitzewelle, die London erfasst hatte. Tags über hingegen hielt man die Fenster offen, alles andere wäre bei der Schwüle auch unerträglich gewesen. So hatte er selbst es leicht gehabt, ins Haus zu schlüpfen, bevor die Sonne untergegangen. Natürlich verfiel niemand auf den Gedanken, der Schatten würde sich erst stundenlang in irgendeiner düsteren Nische des Hauses verstecken, bevor er mit seinem Raubzug begann.
Er blickte über die schön gearbeitete Steinbalustrade des schmalen Balkons und überlegte, wie er nachher wohl am besten zu den griechischen Säulen kletterte, die die Eingangstür einrahmten. Falls er es dorthin schaffte, würde er an einer der Säulen hinabgleiten und dann hinunterspringen vors Parterre des Hauses, wo sich die Küchentür befand. Dort unten, von der Straße abgeschirmt, konnte er Maske und Mütze abnehmen und sich stattdessen mit dem teuren Hut und Mantel schmücken, die er da zusammengerollt in einer Ecke hatte liegen lassen. Anschließend blieb ihm dann nur noch, sich genüsslich eine Zigarre anzuzünden, in aller Ruhe nach Hause zu schlendern und dabei das Bild des perfekten Gentleman abzugeben, der an einem warmen Sommerabend noch einen kleinen Spaziergang unternahm.
Er ging hinüber zu Lady Pembrokes Kommode. Das ganze Zimmer war in fahles Mondlicht getaucht, das durch das geöffnete Fenster fiel. Auf dem Möbel befand sich ein hübsches Arrangement teurer Kristallfläschchen und zarter Dosen sowie Bürste, Spiegel und Kamm, die in Sterlingsilber gefasst waren. Rasch durchsuchte er die Schubladen.
Nichts.
Ein wenig verwundert schaute er sich um. Aber auch auf dem Nachttisch und dem schmalen Sekretär war nichts zu sehen. Offensichtlich hatten die jüngsten Großtaten des Schattens durchaus ihre Wirkung auf feine Damen gehabt und den Ort, an dem sie ihre teuren Steinchen aufbewahrten. Entschlossen trat er ans Bett, hob die teure Überdecke an und blickte unter die Matratze. Nichts.
Er ließ sich auf die Knie nieder und tastete unter dem Bett herum. Aber auch dort wurde er nicht fündig.
Nachdenklich richtete er sich wieder auf und überlegte, wo Lady Pembroke ihre Schmuckschatulle wohl versteckt haben mochte, bevor sie aus dem Haus gegangen war. Dabei fielen ihm die mit Schnitzereien überladenen Türen des massiven Kleiderschranks auf. Natürlich! Eilig ging er hinüber zu dem Möbel und malte sich schon aus, wie er gleich das beeindruckende Collier aus Rubinen und Diamanten in Händen halten würde, das sie am Abend zuvor auf dem Ball der Marstons getragen hatte. Wie er wusste, besuchte sie heute zusammen mit ihrem Gemahl ein kleines Dinner. Zweifellos war sie viel zu eitel, um auf zwei Gesellschaften hintereinander dieselbe Kette zu tragen. Am Ende glaubte ganz London noch, Lord Pembroke könnte sich mehr Schmuck nicht leisten. Nicht auszudenken! Schwungvoll öffnete er die Türen des Schranks.
Ein Stiefel traf ihn schwer in der Magengrube, so dass er wie ein Pfeil rückwärts durch das Zimmer schoss.
„Guten Abend“, begrüßte ihn der Angreifer gelassen. „Ich hatte schon befürchtet, Sie kämen am Ende gar nicht. “
Mit schmerzverzerrtem Gesicht holte er Luft und betrachtete die Gestalt, die sich da über ihn beugte. Sie hätte sein Zwilling sein können. Das Gesicht und Haar des Mannes waren vollkommen von einer schwarzen Maske und Mütze verborgen. Auch der Rest der Kleidung war aus dunklem Stoff, so dass man ihn in dem unbeleuchteten Raum kaum wahrnehmen konnte.
„Suchen Sie zufällig hiernach? “ Der Fremde griff sich in die Manteltasche und hob Lady Pembrokes glitzerndes Rubincollier in die Höhe. „Und zu Recht! Ein wirklich spektakuläres Stück! Als Connaisseur kann ich Ihnen nur zu Ihrem exzellenten Geschmack gratulieren. Ich darf doch annehmen, dass die Kette Ihnen auf dem Ball der Marstons aufgefallen ist, richtig? “
Misstrauisch beäugte er den Kerl, schwieg aber weiter. Er hatte keinesfalls vor, sich zu verraten, nur weil seinem Zwilling der Sinn nach einer kleinen Unterhaltung stand. „Sie waren ziemlich fleißig in den letzten Monaten, nicht wahr? “ fuhr der Mann fort. „All diese Einbrüche in ganz London. Wirklich beeindruckend, wie Sie da überall hinein- und hinausgeschlichen sind. Fast wie ein Gespenst. Ich muss schon sagen! Wie schade, dass Ihre Laufbahn als Juwelendieb jetzt so abrupt enden
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