Orphan 2 Juwel meines Herzens
unmöglich zur Polizei gehen, falls Sie darauf hinauswollen. “
„Weshalb denn nur nicht? “
„Weil mein Vater geschworen hat, dass er Flynn umbringt, falls die Polizei nach ihm sucht. “
„Das wird er erst feststellen, wenn es schon zu spät ist“, entgegnete Harrison. „Wahrlich, mir ist wohl bewusst, wie stümperhaft die Londoner Polizei beizeiten vorgeht, dennoch werden die Herren es nicht gerade in die Zeitung setzen, dass sie nach ihm fahnden. “
„Oh, natürlich nicht. Sie werden lediglich in jeder Spelunke und jedem Bordell der schlimmsten Gegenden der Stadt nach ihm fragen. Da weiß er sogar noch schneller Bescheid. “
„Sie könnten der Polizei einfach mitteilen, dass sie dabei sein soll, wenn Ihr Vater auf taucht, um das Geld abzuholen. Dann können sie ihn gleich festnehmen. “
„Sie kennen meinen Vater nicht, Harrison“, widersprach sie. „Er mag ungebildet und grob sein, das bedeutet jedoch nicht, dass er dumm ist. Nein, er passt immer sehr gut auf und handelt nie unbedacht. Er wartet. Er beobachtet. Er hört sich um. Und lange bevor die Polizei ihn schnappen kann, verschwindet er aus seinem Versteck. “ Sie bekam fast keine Luft mehr. „Und am Ende wird er mich dafür bestrafen, weil ich ungehorsam war. “
„Charlotte, Sie sind doch kein hilfloses kleines Mädchen mehr! “ Es war wirklich schlimm, welchen Einfluss dieser Unmensch auf sie hatte. Harrison setzte sich wieder neben sie, legte ihr die Hände auf die Schultern und zwang seinen Gast, ihn anzuschauen. „Sie sind stark, schön und besitzen viele Freunde und eine Familie, die Sie sehr liebt. Außerdem gehören Sie zur besseren Gesellschaft, wenn Sie das auch nicht ganz wahrhaben wollen. Kein Wort mehr von Bestrafungen! Tun Sie doch nicht so, als hätte dieser Mann irgendein Recht, Sie derart brutal zu behandeln. Sie müssen ihm nicht länger gehorchen, und er darf Sie nicht anrühren! Ist das klar? “
„Verzeihung“, flüsterte sie. „Ich verstehe, dass es schwierig für Sie sein muss, mich zu begreifen. Wahrscheinlich halten Sie mich für einen lächerlichen Schwächling. Da humple ich hier mitten in der Nacht in Ihren Salon, sehe aus wie nach einem Erdbeben und flehe Sie um Hilfe an. Ich weiß auch nicht, woher ich den Mut nahm, erneut zu Ihnen zu kommen, nachdem Sie mir schon so viel Geld gegeben haben. Nur als ich heute Nacht erwachte, und er sich über mich beugte... seine Hand auf meinen Mund presste....glaubte ich, wieder acht Jahre alt zu sein. Ich muss tun, was er sagt, oder... “ Sie verstummte vor lauter Scham.
Hilflos betrachtete er sie, während er immer noch ihre Schultern umfasst hielt. Es schmerzte ihn, sie so verzweifelt zu erleben. Beim Anblick des dunkelroten Blutergusses auf ihrer Wange überkam Harrison eine unbändige Wut. Man konnte förmlich sehen, wie die schrecklichen Erinnerungen an ihre Kindheit sie ganz in den Bann schlugen. Welches Leid sie dabei empfinden musste, konnte er sich nicht einmal vorstellen. Verzweifelt umklammerte sie Stoff ihres Kleides, bis die Knöchel der Hand weiß her-vortraten. Ein Zittern ging durch ihren Körper, während sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Der Albtraum, den sie in Gedanken wieder durchlebte, raubte ihr allen Mut und die Kraft, mit der sie Harrison in jener Nacht bei den Chadwicks gerettet hatte. Himmel, er konnte es einfach nicht ertragen, wie diese großartige Frau sich in einen Schatten ihrer selbst verwandelte. Ausgerechnet sie, die schon so viel durchgemacht und gemeistert hatte.
Gern hätte er alles getan, um sie aus diesem Tal des Leids herauszuführen und aus der Umklammerung ihrer dunklen Vergangenheit zu befreien. Doch jedes seiner Worte hatte sie offenbar nur noch weiter aufgeregt - tiefer zurückgestoßen in die Welt, der sie so gern auf immer entfliehen wollte. Statt also länger auf sie einzureden, zog er sie an sich und schloss sie fest in die Arme. Er wollte sie so gern vor allem Bösen beschützen.
Dankbar lehnte sie sich an ihn und schmiegte vertrauensvoll ihre Wange an seine Brust. Er begann, ihr zärtlich den Rücken zu streicheln, bis sie sich merklich entspannte. Obwohl Harrison sie nicht danach gefragte hatte, war er doch überzeugt, dass ihr Vater an ihrer Beinverletzung schuld war. Charlotte besaß wirklich Mut. Sie zog sich nicht zurück und führte kein ruhiges luxuriöses Leben auf dem Landsitz des Marquess. Nein, sie kehrte zurück in die dunkle Welt, aus der sie stammte, um anderen Unglücklichen
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