Orphan 2 Juwel meines Herzens
konnte.
Turner erinnerte sich plötzlich an Annie, das schöne Mädchen, dem er bei der Vernehmung von Charlotte Kent begegnet war. Seitdem hatte er immer wieder an sie denken müssen - egal, ob er nun eigentlich gerade einen Fall bearbeitete, abends das Essen zubereitete oder aber des Nachts im Bett lag und verzweifelt zu schlafen versuchte. Miss Kents Schutzbefohlene hatte nun wahrlich nichts gemein mit den hellhäutigen, zugeknöpften jungen Damen der feineren Gesellschaft. Turner wusste natürlich, dass die jemanden wie ihn ohnehin nur mit Verachtung oder Mitleid bedachten. Er musste aber auch ehrlich zugeben, dass er nicht der Stoff war, aus dem man Helden machte. Die meisten Frauen musterten seinen abgetragenen Anzug und die ausgetretenen Schuhe und wussten, dass er keine weitere Mühe wert war. Zugegeben, mit seiner kleinen grauen Wohnung, in der er sich kaum je aufhielt, weil er ständig arbeitete, war er auch nicht gerade eine großartige Partie. Aber Annie hatte etwas anderes in ihm gesehen.
Wie sie ihn in ihrer Wut aus diesen leuchtenden bernsteinfarbenen Augen angefunkelt hatte! Herausfordernd hatte sie die schokoladenbraunen Locken geschüttelt und darauf gewartet, dass er etwas unternahm - als ob sie wirklich geglaubt hatte, dass er etwas ausrichten konnte gegen die Ungerechtigkeit, die ihr widerfahren war. Selbstverständlich lag dies daran, dass er zum Yard gehörte. Schließlich war es sein Beruf, die Hilflosen zu beschützen und für die Einhaltung des geltenden Rechts zu sorgen. Dennoch, Annies Vertrauen galt auch ihm persönlich, das hatte er gefühlt. Ihre kühle Verachtung, als er untätig geblieben war, hatte ihn tief getroffen. Wütend war er gewesen. Einerseits weil ihm nicht die Zeit blieb, ganz St. Giles nach dem Schuft abzusuchen, der sie geschlagen hatte, andererseits, aber auch, weil irgendein Kerl es überhaupt gewagt hatte, die Hand gegen sie zu erheben. Zornig hatte sie sich umgedreht und war davonstolziert wie eine beleidigte Königin.
Himmel, aus ihrem Blick sprach so viel Aufgewecktheit und erst dieser sinnlich geschwungene Körper... einfach der Inbegriff von Weiblichkeit! Sie ist eine Hure, rief er sich immer wieder ins Gedächtnis, aber er sah in ihr eben jemand ganz anderen. Annie war so wunderschön, stolz und temperamentvoll! Wie hätte er ein so strahlendes Wesen jemals als Flittchen abtun können? Außerdem versuchte sie ja, ihrem alten Leben zu entfliehen. Deshalb lebte sie schließlich bei Miss Kent im Heim. Das Mädchen war wirklich eine Kämpferin, die sich nicht von den dunklen Seiten des Lebens hatte zerbrechen lassen.
Entsetzt musste er sich eingestehen, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte.
Und dies lag nicht allein an ihrem entzückenden kirschroten Schmollmund und dem wohlgerundeten Körper. Nein, Annie hatte viel mehr zu bieten, da war er ganz sicher. Er war sehr stolz auf seine Intuition, die, gepaart mit seinem messerscharfen Verstand, fast stets zum richtigen Ergebnis führte. Was sollte er also nun aus dieser Verliebtheit in ein ehemaliges Freudenmädchen machen?
Verwirrt fuhr er sich durchs Haar. Er brauchte dringend mehr Schlaf, das musste es wohl sein. Andernfalls hätte er sich nicht durch einen solchen Unsinn vom wichtigsten Fall seiner Karriere ablenken lassen. Entschlossen musterte er den zusammengeknüllten weißen Stoffball in seiner Hand und zwang sich, in Gedanken zu Lord Bryden und diesem Taschentuch zurückzukehren.
Oberflächlich betrachtet schien Bryden ein wohlgeordnetes Leben zu führen. Aber Turner wusste, dass der Schein trügen konnte. Die meisten Menschen hatten irgendeinen dunklen Fleck in ihrer Vergangenheit, den sie zu verbergen suchten. Lord Bryden bildete da keine Ausnahme. Es war nicht schwierig gewesen, durch einige gezielte Untersuchungen herauszufinden, unter welchen Umständen sein Vater gestorben war.
Kaum fünfzig Jahre alt, hatte der letzte Earl begonnen, immer häufiger ein recht sonderbares Verhalten an den Tag zu legen. Es hieß, er leide wohl an einer verfrühten Form von Altersverwirrtheit, deren Grund eine Syphiliserkrankung sein mochte. Bedauerlicherweise war sein Zustand aber noch nicht so weit fortgeschritten, dass man ihn hätte entmündigen können, und so führte er die Familiengeschäfte weiter. Er legte sein gesamtes Vermögen in einer ausgesprochen riskanten Investition an, die sich prompt als Desaster herausstellte. Seine Lordschaft sah sich daraufhin gezwungen, Güter in Somerset und Norfolk
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