Oryx und Crake
Kurzwellensender bedienen kann. Und wenn einer, dann wahrscheinlich auch andere. Aber dieser hier nützt Schneemensch nicht viel, er ist zu weit weg.
Trottel! Er hat nicht an die CB-Funktion gedacht. Die sollte man in Notfällen benutzen, hatten sie gesagt. Falls jemand in der Nähe sei, würde er CB-Funk benutzen.
Er dreht am Knopf. Empfang, das versucht er jetzt mal.
Kkkkkk.
Dann schwach eine Männerstimme: »Hört mich jemand? Ist da draußen jemand? Hört ihr mich? Ende.«
Schneemensch fummelt an den Knöpfen herum. Wie sendet man? Er hat es vergessen. Wo ist der Scheißknopf?
»Ich bin hier! Ich bin hier!«, brüllt er.
Zurück auf Empfang. Nichts.
Schon hat er Zweifel. War das zu voreilig von ihm gewesen? Woher will er wissen, wer am anderen Ende ist? Doch möglicherweise jemand, mit dem er nicht unbedingt Mittag essen will. Trotzdem fühlt er sich beschwingt, beinahe in Hochstimmung. Es existieren jetzt mehr Möglichkeiten.
Schutzwall
Schneemensch ist so abgelenkt gewesen – von der Aufregung, den Lebensmitteln, den Stimmen im Sprechfunk – dass er den Schnitt in seinem Fuß vergessen hat. Jetzt fordert der Fuß seine Aufmerksamkeit: Es hat sich ein stechendes Gefühl eingestellt, wie ein Dorn. Er setzt sich an den Küchentisch, hebt den Fuß, so hoch er kann, um ihn zu untersuchen. Sieht so aus, als sei da noch ein Glassplitter von der Bourbonflasche drin. Er pult und drückt und wünscht, er hätte eine Pinzette oder längere Fingernägel. Schließlich bekommt er die winzige Scherbe zu fassen und zieht. Es tut weh, blutet aber nicht sehr.
Sobald er das Glasstück raus hat, wäscht er den Schnitt mit etwas Bier aus, dann humpelt er ins Bad und stöbert im Medizinschränkchen.
Nichts zu finden, außer einer Tube Sonnenschutz – nicht geeignet für Schnittwunden –, eine abgelaufene antibiotische Salbe und ein letzter Rest in einer Flasche mit Rasierwasser, das nach künstlicher Zitrone riecht. Er gießt das auch noch drüber, weil Alkohol drin sein muss.
Vielleicht sollte er nach Abflussreiniger oder so was suchen, aber er möchte auch nicht zu weit gehen und sich die Fußsohle verätzen. Er wird sich einfach den Daumen drücken müssen, sich Glück wünschen: Ein entzündeter Fuß würde ihn wirklich langsamer machen. Er hätte den Schnitt nicht so lange unbeachtet lassen dürfen, der Fußboden im Erdgeschoss musste von Keimen strotzen.
Am Abend beobachtet er den Sonnenuntergang durch den schmalen Schlitz des Turmfensters. Wie imposant es gewesen sein muss, als alle zehn Bildschirme der Videokameras an waren und man einen kompletten Panoramablick haben konnte, die Farbhelligkeit erhöhen, die roten Töne verstärken. Sich zudröhnen, zurücklehnen, auf Wolke neun schweben. Aber nun wenden die Bildschirme ihm ihre toten Augen zu, so dass er mit dem echten Anblick auskommen muss, mit nur einem schmalen Ausschnitt von der Farbe einer Mandarine, dann eines Flamingos, dann von wässrigem Blut, dann von Erdbeereis, drüben auf der Seite, wo die Sonne sein muss.
Im verblassenden rosa Licht sehen die Organschweine, die da unten auf ihn warten, wie Minifiguren aus Plastik aus, bukolische Nachbildungen aus der Spielkiste eines Kindes. Sie haben die rosa Färbung der Unschuld, wie so viele Dinge, wenn man sie aus der Ferne sieht. Man kann sich schwer vorstellen, dass sie ihm Böses wollen.
Die Nacht bricht herein. Er legt sich auf eines der Feldbetten im Schlafzimmer, und zwar das Bett, das gemacht ist. Wo ich jetzt liege, hat mal ein Toter geschlafen, denkt er. Er wusste nicht, was auf ihn zukommt. Er hatte keine Ahnung. Anders als Jimmy, der Anhaltspunkte hatte, der es hätte kommen sehen können, aber nicht sah. Wenn ich Crake eher umgebracht hätte, denkt Schneemensch, hätte das etwas ausgemacht?
Es ist zu heiß und stickig hier, obwohl es ihm gelungen ist, die Notlüftungsschlitze aufzustemmen. Er kann nicht gleich einschlafen, also zündet er eine der Kerzen an – sie steht in einem Blechgefäß mit Deckel, Überlebensausrüstung, angeblich kann man auf diesen Dingern Suppe kochen – und raucht eine weitere Zigarette. Diesmal wird ihm nicht so schwindlig davon. Jede Gewohnheit, die er jemals hatte, steckt noch in seinem Körper, latent vorhanden wie die Blumen in der Wüste.
Wenn die richtigen Bedingungen herrschten, würden all seine alten Süchte zu voller und üppiger Blüte erwachen.
Er blättert die Sex-Site-Ausdrucke durch. Die Frauen sind nicht sein Typ – zu überquellend, zu
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