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Oryx und Crake

Oryx und Crake

Titel: Oryx und Crake Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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fühlte sich stark, weil sie wusste, dass die Männer sie für hilflos hielten, was sie doch gar nicht war. Hilflos waren vielmehr die Männer, die bald mit ihrem dummen Akzent Entschuldigungen stammeln und einbeinig in ihren luxuriösen Hotelzimmern herumhüpfen mussten, in den eigenen Hosenbeinen verfangen, mit heraushängendem Hintern, glatten und haarigen, Hintern jeglicher Größe und Farbe, während Onkel En sie beschimpfte. Manche weinten sogar. Und das Geld rückten sie gern heraus, sie leerten ihre Taschen, warfen Onkel En alles Geld hin, das sie hatten, und dankten ihm, dass er es nahm. Sie wollten nicht im Gefängnis sitzen, nicht in dieser Stadt, wo die Gefängnisse keine Hotels waren und wo es endlos dauerte, bis überhaupt Anklage erhoben wurde und ein Prozess stattfand. Sie wollten so bald wie möglich ins Taxi steigen, sich in ein riesiges Flugzeug setzen und durch den Himmel davonfliegen.
    »Kleine SuSu«, sagte Onkel En, wenn er Oryx draußen vor dem Hotel absetzte. »Du bist ein schlaues Mädchen! Wenn ich könnte, würde ich dich heiraten! Würde dir das gefallen?«
    Das war das der Liebe Nächste, was Oryx damals bekommen konnte, und deshalb war sie glücklich. Aber was war die richtige Antwort, ja oder nein? Sie wusste, dass es keine ernsthafte Frage war, sondern ein Scherz: Sie war erst fünf oder sechs oder sieben und konnte nicht heiraten. Außerdem sagten die anderen Kinder, dass Onkel En eine erwachsene Frau hatte, die in einem anderen Haus wohnte, und auch noch andere Kinder. Seine echten Kinder. Sie gingen zur Schule.
    »Darf ich an deiner Uhr horchen?«, sagte Oryx mit ihrem scheuen Lächeln. Und meinte damit anstatt. Anstatt dich zu heiraten, anstatt deine Frage zu beantworten, anstatt dein echtes Kind zu sein. Und er lachte noch mehr und ließ sie an seiner Uhr horchen, aber sie hörte keine kleine Stimme darin.

    Pixieland-Jazz

    Eines Tages kam ein anderer Mann, den sie noch nie gesehen hatten –
    ein großer dünner Mann, größer als Onkel En, mit pockennarbigem Gesicht und schlecht sitzenden Kleidern –, und sagte, sie müssten alle mit ihm kommen. Onkel En habe seinen Blumenhandel verkauft, die Blumen, die Blumenverkäufer und alles andere, und sei fortgezogen, in eine andere Stadt. Der neue Boss war jetzt also der große Mann.
    Etwa ein Jahr später erfuhr Oryx von einem Mädchen – mit dem sie während der ersten Wochen in dem Zimmer mit den Matratzen zusammen gewesen war und das sie in ihrem neuen Leben, dem Leben im Filmgeschäft, wieder getroffen hatte –, dass die Geschichte nicht stimmte. Die wahre Geschichte lautete, dass Onkel En eines Tages mit durchgeschnittener Kehle in einem der Kanäle der Stadt gefunden worden war.
    Das Mädchen hatte ihn gesehen. Nein, das stimmte nicht, nicht mit eigenen Augen; aber sie kannte jemanden, der ihn gesehen hatte. Er war es, kein Zweifel. Sein Bauch war aufgebläht wie ein Kissen, sein Gesicht gedunsen, aber es war eindeutig Onkel En. Er hatte nichts an –

    jemand hatte ihm sämtliche Kleidungsstücke weggenommen. Vielleicht jemand anderes, nicht derselbe, der ihm die Kehle durchgeschnitten hatte, oder vielleicht doch derselbe, denn wozu brauchte eine Leiche derart gute Kleider? Er hatte auch keine Uhr mehr. »Und kein Geld«, hatte das Mädchen gesagt und gelacht. »Keine Taschen, also kein Geld!«

    »Es gab Kanäle in dieser Stadt?«, fragte Jimmy. Und erhoffte sich den einen oder anderen Hinweis auf die Stadt. Damals wollte er alles über Oryx wissen, was es zu wissen gab, und dazu gehörte jeder Ort, an dem sie sich je aufgehalten hatte. Er wollte jeden, der ihr je etwas zu Leide getan oder sie unglücklich gemacht hatte, aufspüren und es ihm eigenhändig heimzahlen. Er marterte sich selbst mit qualvollem Wissen: jede weiß glühende Halbwahrheit, die er auftreiben konnte, rammte er sich unter die Fingernägel. Je mehr es wehtat, desto mehr – so seine Überzeugung – liebte er sie.
    »Oh ja, es gab Kanäle«, sagte Oryx. »Die Bauern haben sie benutzt, auch die Blumenzüchter, um zu den Märkten zu fahren. Sie banden ihre Boote fest und verkauften ihre Waren an Ort und Stelle, an den Kais.
    Aus der Ferne war das ein hübscher Anblick. So viele Blumen.« Sie sah ihn an: Oft erriet sie, was er dachte. »Aber viele Städte haben Kanäle«, sagte sie. »Und Flüsse. Die Flüsse sind sehr nützlich, für den Müll und die Toten und die weggeworfenen Babys und die Scheiße.« Sie wollte es nicht hören, wenn er fluchte, aber

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