Oryx und Crake
die Kinder weniger langweilig als das, was sie während der restlichen Zeit taten, denn das war nicht viel. Sie sahen Zeichentrickfilme auf dem alten DVD in einem der Zimmer, Mäuse und Vögel, die von anderen Tieren gejagt, aber nie erwischt wurden; sie bürsteten und flochten sich gegenseitig die Haare; sie aßen und schliefen. Manchmal benutzten andere Leute das Studio und drehten Filme anderer Art. Dann kamen erwachsene Frauen, Frauen mit Brüsten, und erwachsene Männer – Schauspieler. Die Kinder durften dabei zusehen, solange sie nicht im Weg waren. Allerdings kam es gelegentlich vor, dass die Schauspieler sich gestört fühlten, weil die kleinen Mädchen über ihre Penisse kicherten – so riesig und dann, manchmal, plötzlich winzig klein –, und dann mussten die Kinder in ihr Zimmer zurück.
Sie wuschen sich häufig – das war wichtig. Sie duschten sich aus Eimern. Sie sollten rein aussehen. An einem schlechten Tag, an dem es nichts zu tun gab, wurden sie müde und ruhelos und fingen an zu streiten. Manchmal bekamen sie zur Beruhigung einen Zug von einem Joint oder einen Schluck Alkohol – Bier vielleicht –, aber keine härteren Drogen, von denen ihre Haut welk und faltig geworden wäre; rauchen durften sie auch nicht. Der Mann, der für sie verantwortlich war – der Große, nicht der Mann mit der Kamera –, sagte, vom Rauchen würden ihre Zähne braun. Sie taten es trotzdem manchmal, wenn der Kameramann ihnen eine Zigarette schenkte.
Der Kameramann war weiß und hieß Jack. Er war derjenige, den sie am häufigsten sahen. Seine Haare sahen aus wie zerfasertes Tau, und er roch sehr streng, denn er war Fleischesser. Er aß unheimlich viel Fleisch! Fisch mochte er nicht. Reis auch nicht, aber Nudeln. Nudeln mit viel Fleisch.
Jack sagte, dort, wo er herkomme, würden größere und bessere Filme gedreht, die besten der Welt. Er hatte ständig Heimweh. Es sei reines Glück, sagte er, dass er noch nicht tot sei – dass ihn dieses beschissene Land mit seinem lausigen Essen noch nicht umgebracht habe. Einmal, sagte er, sei er beinahe an irgendeiner Krankheit eingegangen, die er sich vom Wasser geholt habe, und das Einzige, was ihn gerettet habe, war, dass er sich richtig besoffen habe, denn Alkohol sei keimtötend.
Daraufhin musste er ihnen erklären, was Keime sind. Die kleinen Mädchen lachten über die Keime, weil sie nicht daran glaubten; die Krankheit jedoch glaubten sie ihm, sowas hatten sie schon erlebt. Daran waren die Geister schuld, das wusste jeder. Geister und Unglück. Jack hatte eben nicht die richtigen Gebete gesprochen.
Jack sagte, von dem verkommenen Essen und verseuchten Wasser würde er noch viel öfter krank werden, wenn er nicht einen sehr robusten Magen hätte. In dem Geschäft brauche man das auch. Er sagte, die Videocam sei Uraltschrott für Tingelshows und die Beleuchtung miserabel, und deshalb sei es kein Wunder, dass alles so billig aussehe.
Er wünschte, er hätte eine Million Dollar, sagte er, aber er habe sein ganzes Geld aus dem Fenster geworfen. Er könne Geld nicht festhalten, sagte er, es rinne von ihm ab wie Wasser von einer eingeölten Hure.
»Werdet bloß nicht wie ich, wenn ihr groß seid«, pflegte er zu sagen.
Und die Mädchen lachten, denn egal, was aus ihnen wurde, sie würden nie werden wie er, ein riesiger Clown mit fasrigen Haaren und einem Schwanz wie eine schrumpelige alte Karotte.
Oryx sagte, sie habe viele Male Gelegenheit gehabt, die alte Karotte aus der Nähe zu sehen, weil Jack Filmsachen mit ihr machen wollte, wenn keine Filme gedreht wurden. Danach war er traurig und sagte, es tue ihm Leid. Das war sonderbar.
»Du hast es umsonst getan?«, sagte Jimmy. »Ich dachte, alles hat seinen Preis?« Er hatte nicht das Gefühl, dass er den Streit um das Thema Geld gewonnen hatte, er wollte eine neue Runde.
Oryx zögerte, hob den Nagellackpinsel. Sie betrachtete ihre Hand. »Es war ein Geschäft auf Gegenseitigkeit«, sagte sie.
»Gegenseitigkeit?«, sagte Jimmy. »Was hätte dieser miese alte Sack von einem Versager dir zu bieten gehabt?«
»Warum denkst du schlecht von ihm?«, sagte Oryx. »Er hat nie etwas mit mir gemacht, das du nicht auch tust. Nicht annähernd so viel!«
»Ich tu nichts gegen deinen Willen«, sagte Jimmy. »Außerdem bist du inzwischen erwachsen.«
Oryx lachte. »Was ist mein Wille?«, sagte sie. Dann bemerkte sie anscheinend seinen gequälten Blick und verstummte. »Er hat mir das Lesen beigebracht«, sagte sie leise. »Ich
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