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Oscar

Oscar

Titel: Oscar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Dosa
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Personal mit einem Lächeln und der beruhigenden Bemerkung, das sei nur Henry, der eben gern Aufzug fahre. Insgeheim fragten sich einige jedoch inzwischen, ob Henry wohl wie so viele der Menschen, mit denen er zusammenlebte, an Demenz litt.
    Sein Verhalten schien die Diagnose jedenfalls zu bestätigen. Am Ende seiner Tage hatte Henry Mühe bei der Nahrungsaufnahme, er wurde inkontinent und verlor zunehmend an Gewicht. Manche überlegten, ob man ihn einschläfern lassen sollte, woraufhin mehrere Mitarbeiter des Hauses sich noch intensiver um ihn kümmerten, um den letzten Ausflug zum Tierarzt zu verhindern. Es scheint ganz folgerichtig, dass die meisten sich nicht davon abbringen ließen, sich um ihren kranken Kater zu kümmern. Schließlich stellte Henry in gewisser Hinsicht eine ähnliche Aufgabe dar wie die Patienten, für die sie täglich sorgten.
    Glücklicherweise musste man letztendlich nicht die schwierige Entscheidung treffen, Henrys Leben künstlich zu beenden. Als wollte er allen im Haus einen Gefallen tun, schlief er eines Abends ein und wachte nie wieder auf. Einige Tage später wurde ein Begräbnis abgehalten, an dem fast das gesamte Haus, Personal wie Patienten, teilnahm. Es war eine Zeremonie wie für ein Staatsoberhaupt. Jemand hielt eine Grabrede, jemand anders hatte aus Holz einen kleinen Sarg gezimmert. Viele weinten. Anschließend wurde Henry in aller Form im Garten hinter dem Haus bestattet.
    Henry hatte eine neue Atmosphäre ins Pflegeheim gebracht, das dadurch wohl mehr zu einem Zuhause geworden war. Angesichts dessen forderten viele Mitarbeiter und Patienten von der Leitung, einen Ersatz für ihren Kater zu finden. Anfangs stießen sie damit zwar auf Widerstand, aber nach einer Weile gab man nach, und das Personal suchte nach möglichen Kandidaten. Durch zwei verschiedene Zeitungsanzeigen fand man Oscar und Maya, die für die zweite Etage adoptiert wurden. Billy und Munchie waren Kater aus dem Tierheim, deren Besitzerin gestorben war. Schließlich nahm man noch Chico und Molly für die Station im Erdgeschoss auf, wo die Bewohner mit weniger schwerer Demenz untergebracht sind. Insgesamt kamen also sechs Katzen als Ersatz für Henry ins Heim, gefolgt von einer Handvoll weiterer Tiere, und das alles wegen eines unerwünschten Katers, der hartnäckig sein Wohnrecht eingefordert hatte.
    Ursprünglich hatten die Mitarbeiter und Patienten sich durch die Anwesenheit der Katzen einfach mehr daheim gefühlt. Inzwischen aber leisteten diese Tiere wohl noch mehr – sie zeigten uns, was es heißt, eine Familie zu sein.

[home]
    Der beste Maßstab
für die Temperatur eines Tages
ist die Länge einer schlafenden Katze.
    Charles J. Brady
    6
    W enn Patienten unheilbar krank sind, stellt sich für die behandelnden Ärzte zu einem gewissen Zeitpunkt die Frage, ob und wie die Behandlung eingeschränkt werden sollte. Dabei geht es nicht nur um Wiederbelebungsmaßnahmen bei einem Herzstillstand oder einem Atemversagen. In den meisten Fällen steht die schwierige Entscheidung an, ob bestimmte Untersuchungen und Therapien weiterhin sinnvoll sind oder ob die weitere Behandlung sich darauf beschränken sollte, das Leiden des Patienten zu lindern.
    Handelt es sich um eine Erkrankung wie Krebs, sind Gespräche über diese Fragen relativ konkret. In solchen Fällen leiden die Patienten oft unter Schmerzen oder Übelkeit; sie verlieren rasch an Gewicht und stellen fest, dass sie keinen Appetit mehr haben. Manchmal tritt Gelbsucht auf, gelegentlich versagen auch bestimmte Organe. So schwer das alles für den Betroffenen ist, sind die Symptome doch konkret, und es ist für den Arzt leicht, mit den Angehörigen darüber zu sprechen. Die Vorstellung, Schmerzen zu lindern, selbst wenn dadurch das Leben verkürzt wird, erscheint den meisten Menschen annehmbar. Deshalb handelt man so, wenn keine anderen Behandlungsmöglichkeiten mehr bestehen.
    Bei Demenz verhält sich die Lage anders.
    Zwar gelten Krankheiten wie Alzheimer als unheilbar, aber sie haben einen wesentlich langsameren Verlauf als andere. Wie die natürliche Erosion die Gestalt eines Küstenstrichs verändert, spielen sich solche Erkrankungen innerhalb von Monaten und Jahren ab statt innerhalb von Tagen. Weil der Patient normalerweise nicht an Schmerzen oder anderen Beschwerden leidet, sind die betreffenden Gespräche komplexer und ethisch abstrakter. Betreuungspersonen und Angehörige sind gezwungen, sich mit Fällen auseinanderzusetzen, bei denen es zum Beispiel

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