Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oscar

Oscar

Titel: Oscar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Dosa
Vom Netzwerk:
zum ersten Mal tut. Kapiert hat er es trotzdem nie. Da bin ich so wütend auf ihn geworden, statt einfach zu akzeptieren, dass man jemandem, der gerade alles verlernt, nichts mehr beibringen kann. Darauf kommen musste ich allerdings selbst. Wahrscheinlich gilt das für jeden, der so jemanden pflegt.«
    Nun geriet auch Robin allmählich aus der Fassung. Mit den Erinnerungen kehrten unweigerlich die Schuldgefühle zurück. Da hatten die beiden sich so viel Mühe gegeben und so viel getan, und dennoch tat es ihnen leid, wie sie manchmal mit alltäglichen Problemen umgegangen waren. Solche Schuldgefühle waren so natürlich wie die von den beiden geschilderte Frustration. Ich konnte mir leicht vorstellen, wie ärgerlich und gereizt man werden konnte, wenn man es mit einem studierten Menschen zu tun hatte, der nicht mehr wusste, wie man sein Hemd zuknöpft oder den Fernseher anstellt.
    »Wieso kannst du das nicht mehr?«, würde man da wohl am liebsten fragen. »Das kann doch jedes Kind!«
    Der Unterschied besteht darin, dass ein Kind ständig lernt. Ein Alzheimer-Patient hingegen
verlernt
langsam alles, was er einmal wusste.
    Wie viele Angehörige in einer solchen Situation waren Joan und Robin in eine Falle getappt – sie hatten sich an die Person erinnert, die einmal da gewesen war, statt sich auf die Person einzustellen, die momentan da war, und die hatte Demenz. Nachdem ihnen schließlich doch klar geworden war, dass sie nach jemandem suchten, den es nicht mehr gab, fühlten sie sich schuldig, weil sie so oft ärgerlich geworden waren.
    »Wenn ich bloß mehr Geduld mit meinem Vater gehabt hätte!«, bekomme ich dann etwa später zu hören. »Schließlich hat er es ja nicht absichtlich getan.«
    »Sehr vielen Leuten fällt es schwer, genau zu wissen, was man tun muss«, sagte ich nun zu Mutter und Tochter, um sie ein wenig zu entlasten. »Und Schuldgefühle, weil man zornig wegen etwas wurde, haben praktisch alle. Darauf hat man keinen Einfluss.«
    Robin nickte, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie meine Worte wirklich annehmen konnte. Rational wissen die Angehörigen oft, dass sie nicht mehr für den Demenzkranken tun konnten, als sie getan haben, doch das vertreibt die Schuldgefühle nicht.
    »Das Schlimmste«, fuhr Robin fort, »war für mich wohl, dass es mir später, als mein Vater im Heim war, so schwerfiel, ihn überhaupt zu besuchen. Da sollte ich zu jemandem gehen, den ich seit meiner Kindheit kannte und der mir nun nicht einmal mehr eine Antwort gab. Wie soll man denn mit jemandem sprechen, der überhaupt nicht reagiert?«
    Obwohl das wieder eine rhetorische Frage war, versuchte ich es mit einer Antwort. »Ich glaube, in so einem Fall tut man alles, was man tun kann«, sagte ich. »Es nützt durchaus etwas, einfach da zu sein, selbst wenn man nicht die Rückmeldung bekommt, die man erwartet.«
    Joan griff nach ihrer Handtasche und zog ein schmales Blatt Papier hervor. »Daran habe ich mich immer aufgerichtet, wenn ich damals zornig oder frustriert war. Es ist ein Zitat aus
Saturday,
einem Roman von Ian McEwan. Da besucht jemand seine Mutter im Pflegeheim und findet, es sei ›fast, als bringe man Blumen an ein Grab, eine Handlung, bei der es eigentlich um die Vergangenheit geht‹. So war es auch für mich.«
    Wir sprachen noch etwa eine halbe Stunde über die verschiedenen Aspekte von Larry Scheers Krankheit. Als ich dann auf mein eigentliches Anliegen zu sprechen kam, war es mir fast peinlich, einfach das Thema zu wechseln, aber zum Glück reagierten die beiden ganz locker. Das Gesicht von Joan hellte sich sogar merklich auf, als sie den Namen Oscar hörte.
    »Am Anfang«, sagte Robin, »dachten wir, ausgerechnet diesmal hätte Oscar überhaupt nichts mitbekommen. Mein Vater lag nämlich schon eine ganze Weile im Sterben, und Oscar war noch nie aufgetaucht. Kein einziges Mal.«
    Ihre Mutter nickte.
    »Natürlich hatten wir von seinem Verhalten gehört und haben uns deshalb ziemlich gewundert«, fuhr Robin fort. »Wir haben sogar nach ihm gesucht, und als wir ihn fanden, lag er auf dem Bett eines anderen Patienten. Er sah ziemlich nervös aus. Ich weiß noch, wie meine Mutter scherzhaft zu ihm sagte, er wäre aber ziemlich pflichtvergessen. Als wir dann ein paar Stunden später wieder im Zimmer meines Vaters saßen, kam Oscar plötzlich hereingeflitzt. Erst später haben wir erfahren, dass der Patient, auf dessen Bett er vorher gelegen hatte, inzwischen gestorben war. So lange war Oscar bei ihm

Weitere Kostenlose Bücher