Oscar
heikel werden lässt. Viele Menschen meinen, einen Patienten nicht künstlich zu ernähren, sei gleichbedeutend mit einer grausamen Bestrafung. Der Gewichtsverlust am Ende eines Lebens ist jedoch eine natürliche Folge dessen, dass der Körper seine Funktionen herunterfährt, um sich auf den Tod vorzubereiten. In diesem Lebensstadium empfinden Patienten weder Hunger noch Durst auf dieselbe Weise wie jemand, der gesund ist. Dennoch ist es nie leicht, die Angehörigen von diesen Tatsachen zu überzeugen, während ein Mensch, den sie lieben, stirbt. Unendlich einfacher ist es deshalb, wenn der Patient sich zu einem früheren Zeitpunkt bewusst zu dieser Frage geäußert hat.
Frank sah mich mit schuldbewusster Miene an. »Sie haben recht, Doktor. Ruth hat tatsächlich gesagt, sie will keine Magensonde. Aber sie muss doch etwas essen! Wie kann sie sich denn erholen, wenn sie nichts isst?«
Seine Augen füllten sich mit Tränen, die ihm das Gesicht hinabliefen. Er wischte sie mit dem Hemdsärmel weg.
»Vermutlich wird sie ja bald wieder anfangen zu essen, Frank«, sagte ich beruhigend. »Bis dahin werden wir ihr mit dem Tropf Flüssigkeit zuführen und versuchen, sie so gut wie möglich zu füttern. Wir müssen einfach auf das Beste hoffen.«
»Aber wenn das alles nicht funktioniert?«, fragte er verzweifelt.
Ich sah ihn an und versuchte, mir etwas Positives einfallen zu lassen, aber mein Gesicht sagte offenbar alles. Frank begann zu schluchzen.
Ich ging zum Regal, um die dort stehende Schachtel Papiertaschentücher zu holen. Nachdem ich sie Frank gereicht hatte, setzte ich mich wieder zu ihm. Er nahm ein Taschentuch und tupfte sich damit das Gesicht ab.
»Doktor, ich bin einfach nicht bereit dafür, dass sie mich verlässt«, sagte er nach kurzem Schweigen.
»Ich weiß, wie sehr Sie Ruth lieben, Frank. Leider ist das der Lauf der Dinge. So sterben Patienten mit Demenz, wenn es so weit ist.«
Frank sah mich an und brach wieder in Tränen aus.
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, doch zu sagen gab es nichts mehr.
[home]
Wenn auf den Boden auch nur ein einziger Fleck
Sonne fällt, findet eine Katze ihn und aalt sich darin.
J. A. McIntosh
15
M orgens funktioniere ich meist wie ein Automat. Ich stehe auf, stelle mich kurz unter die Dusche und ziehe mich an, ohne viel darüber nachzudenken, was ich tue. Stattdessen nutze ich die Zeit, um meinen Tag zu planen, überlege, ob ich Zeit für ein anständiges Frühstück habe, und entscheide, wo ich hinmuss und was zu tun ist. So beginnen die meisten von uns ihren Tag, indem sie sich auf ihre Routine verlassen und darauf, dass der Körper weiß, was er braucht, während wir in unsere Gedanken versunken sind.
So selbstverständlich, wie wir meinen, ist das alles jedoch nicht. Als ich beobachtete, wie meine beiden Kinder lernten zu gehen, sich zu waschen und selbständig zu essen, wurde mir klar, wie schwierig diese Tätigkeiten zu meistern sind. Das Gehen beginnt nicht mit dem ersten Schritt. Zuerst kugelt das Kind unbeholfen auf dem Boden umher, dann krabbelt es aufgeregt durch die Gegend, bis es ein Stuhlbein packt und sich daran aufrichtet. Und dann gibt es noch allerhand Beulen und blaue Flecken, bevor jener erste, entscheidende Schritt gelingt. Von da an gibt es natürlich kein Halten mehr.
Wir verbringen die ersten Jahre unseres Lebens damit, solche zentralen Aktivitäten zu erlernen, und dann beschäftigen wir uns mit anderen Dingen, ohne je wieder darüber nachzudenken. Dabei halten wir es für selbstverständlich, für uns selbst sorgen zu können – bis eine Krankheit uns oder eine uns nahestehende Person dieser Fähigkeiten beraubt. Handelt es sich bei dieser Krankheit um Demenz, so halten wir vielleicht nie wieder irgendetwas für selbstverständlich. Wenn ein Demenzpatient einmal verlernt hat, alltägliche Funktionen auszuführen, dann merken wir schnell, wie schwierig es beispielsweise ist, einen fünfundachtzig Kilo schweren Mann ohne Hilfe zu baden. Wir lernen, dass für die simple Aufgabe, jemanden auf die Toilette zu bringen, womöglich mehrere Personen nötig sind. Und wir erfahren, wie viel Geduld es erfordert, ein Elternteil zu füttern, das jeglichen Appetit verloren hat oder nicht einmal mehr weiß, was man mit einem Löffel macht.
In den mittleren Stadien der Demenz, wenn die Betroffenen allmählich die Fähigkeit verlieren, sich ohne Hilfe um sich selbst zu kümmern, fallen sie und ihre Angehörigen nicht selten durch die Maschen des
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