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Oscar

Oscar

Titel: Oscar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Dosa
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irgendwelchen Fachbegriffen hantiert. Sie haben mir erklärt, Larry habe eine bestimmte Alzheimer-Variante, aber keiner von ihnen hat sich je mit mir zusammengesetzt und gesagt: ›Ihr Mann hat Demenz, und deshalb wird in den nächsten Jahren dies und jenes mit ihm passieren.‹ Stattdessen hat man mir Tomographieaufnahmen gezeigt und über Plaques und fibrilläre Ablagerungen doziert, als hätte ich ein Medizinstudium absolviert. Mit den Aufnahmen konnte ich überhaupt nichts anfangen.«
    Leider höre ich so etwas ständig. Es ist mir schon klar, dass meine Kollegen versuchen, ihren Patienten und deren Angehörigen Informationen zu vermitteln, aber ich finde, es gibt bessere Methoden, sie im Umgang mit der Krankheit zu unterstützen.
    Joan spielte nachdenklich mit ihrem Taschentuch. »Ich würde mir einfach wünschen«, sagte sie dann nachdrücklich, »dass es mehr Ärzte gibt, die einem sagen, wie man im Alltag zurechtkommt, wenn man mit jemand zusammenlebt, der Demenz hat.«

    »Es geht nur um den Zweck!« Dieser Satz stammt aus einer Vorlesung, die ich vor vielen Jahren im Medizinstudium hörte und an die ich mich noch gut erinnere. Nachdem die am Pult stehende Dozentin ihn ausgesprochen hatte, machte sie eine Pause und musterte die zukünftigen Ärztinnen und Ärzte, die vor ihr saßen.
    »In unserem Fach wird oft der Fehler gemacht, sich nur auf die Diagnose zu stützen«, fuhr sie fort. »In Wirklichkeit ist der Name der Erkrankung jedoch überhaupt nicht von Belang. Aus fachlicher Sicht mag er uns wichtig erscheinen, und viele Patienten denken das auch, aber ich kann Ihnen garantieren, dass er in den meisten Fällen irrelevant ist. Meinen Sie etwa, es ist für einen Patienten wirklich von Interesse, ob er nun unter progressiver supranukleärer Blickparese, Alzheimer, Morbus Pick oder Lewy-Körperchen-Demenz leidet?«
    Jemand in der ersten Reihe hob die Hand. »Aber es ist doch wichtig, dass wir darüber Bescheid wissen?«
    »Aus ärztlicher Sicht ist es sehr wichtig«, war die Antwort. »Diese Begriffe stellen die Sprache dar, mit der wir einander Informationen vermitteln. Sie helfen uns dabei, eine Krankheit zu definieren und uns darüber auszutauschen. Für den Patienten hingegen sind sie bei weitem nicht so wichtig.«
    »Aber wollen die Leute denn nicht wissen, womit sie es zu tun haben?«, fragte derselbe Student. Er gehörte offenbar zu den Kommilitonen, die meinten, zusätzliche Punkte zu bekommen, wenn sie die Dozenten auf die Probe stellten.
    »Natürlich. Die Patienten wollen wissen, was ihre Beschwerden oder Einschränkungen verursacht. Die Angst vor dem Unbekannten ist immer schlimmer als eine Angst, die sich auf etwas Bestimmtes richtet. Letztendlich geht es dem Betroffenen jedoch mehr um die Beschwerden und Einschränkungen, die er hat, als um irgendeinen Namen oder ein Etikett.«
    Hier machte die Dozentin wieder eine rhetorische Pause. »Wichtig ist den Patienten in erster Linie, inwiefern die Erkrankung sich auf ihre Lebensweise auswirkt«, fuhr sie fort. »Werde ich an dieser Krankheit sterben? Werde ich weiterhin meine Beine gebrauchen und für mich selbst sorgen können? Werde ich für meinen Mann, meine Frau, meine Kinder sorgen können? Werde ich Schmerzen haben? Das ist es, was die Menschen am meisten interessiert.«
    Damit hatte sie natürlich recht. Wenn man von einem Auto überfahren wird, ist es einem ziemlich egal, um welche Marke und welches Modell es sich handelt.

    »Heute schäme ich mich manchmal so, weil ich mich damals nicht anders verhalten habe«, sagte Joan Scheer zu mir. »Wenn ich nur mehr gewusst hätte!« Sie sah ihre Tochter an, um sich deren moralische Unterstützung zu holen.
    »Ich glaube, jeder muss sich in so einer Lage alles, was nötig ist, selber aneignen«, sagte Robin. »Manchmal denke ich, wir haben beide irgendwie versagt.«
    »Wieso?«
    »Wir wussten einfach nicht, wie wir mit meinem Vater umgehen sollten«, antwortete Robin. »Manchmal waren wir unheimlich frustriert und ungeduldig, oder wir haben uns wegen völlig belangloser Dinge über ihn aufgeregt. Zum Beispiel hat er im Lauf seiner Krankheit irgendwann vergessen, wie man den Schlüssel ins Türschloss steckt.«
    »Und wie man im Auto den Sicherheitsgurt anlegt«, warf ihre Mutter ein.
    »Genau! Jedes Mal, wenn wir in den Wagen stiegen, hat mein Vater mir gesagt, ich soll ihm zeigen, wie man sich anschnallt. Dann habe ich es ihm immer wieder genau gezeigt, als wäre er ein kleines Kind, das so etwas

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