Osterfeuer (German Edition)
freundliche Geste zu schulden. Das war sein altes Problem:
Er spürte das Gewicht der ganzen Welt auf seinen Schultern und fühlte sich verantwortlich
für die unreife Fremdenfeindlichkeit der dummen Jungs auf dem Spielplatz und die
dumpfe Aggressivität der Parolen im Hausflur. Also fragte er, ob sich Morales denn
in Deutschland wohl fühle und legte sich dabei schon eine gut formulierte Erklärung
für das Verhalten engstirniger Zeitgenossen sowie eine Solidaritätsbekundung im
Namen aller aufgeklärten Bürger zurecht. Allein, zu seinem großen Erstaunen: Morales
war begeistert! Er war in seiner Lobeshymne auf die Wohn- und Arbeitsverhältnisse
hier, die Behörden und die Ordnung, auf Deutschland und die Deutschen nicht mehr
zu stoppen, so dass Angermüller nur ernüchtert sagte: »Na, das ist ja schön zu hören,
Herr Morales … aber wir müssen jetzt leider weiter.«
Sie verabschiedeten sich und der
Kubaner wünschte ihnen von ganzem Herzen: »Und schöne Abend noch, Señores!«
»Wir werden uns bemühen, Danke ebenfalls!«,
antwortete Angermüller und im Flur fragte er Jansen: »Würdest du dich hier wohl
fühlen an seiner Stelle?«
»Auch nicht an meiner Stelle, in
dieser Miefkaserne … Aber für so’n armen Kubaner ist das hier der totale Luxus!«
Natürlich hatte Angermüller die
Frage anders gemeint, doch Philosophieren über das Leben als Ausländer in Deutschland
war nicht Jansens Thema.
»So, ich leg dann mal einen Zahn
zu«, rief er und sprang in langen Schritten die Treppe hinunter.
»Wir sehen uns später!«
Angermüller wandte sich an Oliver,
der immer noch einen sehr unglücklichen Eindruck machte:
»Kollegen fahren uns beide jetzt
zu dir nach Hause. Wir haben sowieso noch bei euch zu tun. Falls sich neue Fragen
ergeben, wissen wir ja, wie wir dich erreichen können. Und wenn ich dir noch einen
ganz persönlichen Rat geben darf«, er legte dem Jungen, der betreten zu Boden sah,
seine Hand auf die Schulter:
»Erzähl deiner Freundin alles, wenn sie dir wichtig ist …«
8
Makellos und akkurat wie die Beine einer Revuetanztruppe reihten sich
sechs Hasenkeulen mit elegant angewinkelten Läufen in dem Weidenkorb aneinander
und harrten ihres Auftritts. Diese sechs mageren, zarten Wildteile aus bestem Muskelfleisch
waren quasi Linas Passierschein auf dem Weg in Trudes Küche gewesen, um dort so
nah wie nur möglich am Ort desselben, Informationen aus erster Hand über das grausige
Verbrechen zu erlangen, das seit den Mittagsstunden die Einwohner von Warstedt beschäftigte.
Lina Erichsen war die Bäuerin vom
Nachbarhof, eine lebhafte Sechzigjährige, ebenso redselig wie neugierig und so wohlhabend
wie geizig. Sie und ihr Mann, Erich, hatten vor einiger Zeit ihre großen Ländereien
in stadtnaher Lage bestens verkaufen können und genossen seitdem ihr Leben auf Reisen,
beim Tennis, auf der Jagd oder beim Golf. Aber letztendlich langweilte sich Lina
unendlich ohne die gewohnte Arbeit, was sie natürlich nie zugegeben hätte und war
immer auf der Suche nach Abwechslung. Und so hatte sie sich nach dem ostersonntäglichen
Kaffeetrinken mit dem Korb unterm Arm zu ihrer Nachbarin aufgemacht.
»Der Erich het secht, bring man
die paar S-tücke Fleisch zu unsern Nachbars – für uns zwei alte Lüüt is dat ja man
zuviel. Und ihr hebt ja auch Besuch. Nu ja, ihr seid jetzt zwar ein Esser weniger
…«
So hatte Lina versucht, ihr Auftauchen
am späten Nachmittag zu erklären und gleichzeitig hatte sie geschickt ihr eigentliches
Thema zur Sprache gebracht. Natürlich stimmte kein Wort, denn wenn Trude sonst einmal
wegen Wildfleisch aus Erichs Jagd nachfragte, hatte es meist geheißen, dass sie
gerade genug für den Eigenbedarf hätten. Wie dem auch sei, man konnte Lina Erichsen
nicht einfach so aus der Küche schmeißen, denn auch sie gehörte zu dem Kreis der
Damen, die in Warstedt den Ton angaben und über Daumen oben – Daumen unten entschieden.
»Wenn ich bedenke, dass ich gestern
noch mit der Toten ges-prochen habe … Und sie war ja man eine schöne Person, deine
Freundin …«
Wohlig schaudernd hatte die Nachbarin,
die S von T oder P getrennt sprach, sich an das Fest in der Scheune erinnert und
dabei versucht, Trude weitere Einzelheiten zu entlocken.
»Es tut mir leid, Lina. Ich weiß selbst kaum etwas …«
hatte diese sich jedoch immer wieder entzogen. Freundlich aber bestimmt.
»Aber hast du sie nicht gefunden?«
So war das eine ganze Weile gegangen,
bis Lina endlich gemerkt hatte,
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