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Ostfriesenblut

Ostfriesenblut

Titel: Ostfriesenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus-Peter Wolf
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lebte teilweise wochenlang unbemerkt auf dem Dachboden, schlich sich nur nachts ins Haus, bediente sich dann am Kühlschrank, aß, was von den Mahlzeiten übriggeblieben war.
    Seine Aussagen von damals lasen sich kurios. Er habe sogar seine schmutzigen Unterhosen in den Wäschekorb zu den Sachen der Familie gelegt. Sie seien mitgewaschen worden. Später habe er seine Unterhosen dann von der Leine genommen.
    In einem psychologischen Gutachten wurde er als beziehungsgestörter Mensch geschildert, der die Nähe zu anderen suchte, gleichzeitig den Kontakt aber nicht ertragen konnte. In Auseinandersetzungen neigte er zu Gewalttätigkeiten. Mehrfach wurde er als Jugendlicher wegen Körperverletzung verurteilt. Auf Anraten seines zuständigen Sozialarbeiters wurde er in verschiedenen Boxvereinen angemeldet, um seine Aggressionen in den Griff zu bekommen. Er nahm sogar an Landesmeisterschaften teil und absolvierte neun Amateurkämpfe. Neun Kämpfe, acht Siege, jedes Mal durch K. o. Eine Niederlage. Damit endete seine offizielle Boxerlaufbahn.
    Danach trainierte er eine Weile in einem Studio als Kickboxer, wurde aber dort wegen einer Schlägerei in der Umkleidekabine ausgeschlossen.
    Anfang der neunziger Jahre vom Arbeitsamt umgeschult zum IT -Fachmann. Ging mit dem Versuch, sich selbständig zu machen, Anfang 2000 grauenhaft pleite. Das Vergleichsverfahren scheiterte. Es blieben Schulden von mehr als 210   000  Euro an ihm hängen. Er floh vor seinen Gläubigern nach Ostfriesland, wohnte zunächst in Hage, später dann in Greetsiel, wo er aushilfsweise in den Touristenzeiten immer wieder als Kellner arbeitete. Zwei Anzeigen wegen Schwarzarbeit wurden niedergeschlagen.
    Welch eine Karriere, dachte Weller. Ob ich genau so geworden wäre wie er, wenn ich so aufgewachsen wäre? Es kam ihm vor, als hätte man den Jungen systematisch kaputtgemacht. Hatte er überhaupt jemals eine Chance gehabt?
    Dann schob er all diese Gedanken beiseite. Jetzt keine Sentimentalitäten, Frank, sagte er zu sich selbst.
    Was ihm am meisten Sorgen machte, war Hagemans Verhalten in fremden Wohnungen und seine Gewaltbereitschaft. Weller fragte sich, ob Hagemann auch in Ann Kathrins Haus im Distelkamp herumgeschlichen war. Er war ja offensichtlich ein Spezialist in solchen Dingen. Kaum vorstellbar, fand Weller, dass jemand wochenlang als Mitbewohner in einem Haus war, und die anderen kriegten es nicht mit.
    Vielleicht, dachte Weller, ist er ja gar nicht nur bei Ann Kathrin eingestiegen und hat dort seine Webcams angebracht. Vielleicht hat er dort ja gewohnt. Nun, dachte er erleichtert, es wäre ihr sicherlich aufgefallen, wenn er seine Unterhosen zu ihren gelegt hätte. Es war ja kein Mann mehr im Haus … Trotzdem fand er den Gedanken gruselig. Was für ein merkwürdiger Mensch. Und was für ein schreckliches Schicksal.
    Vielleicht hatte seine Mutter noch Einfluss auf ihn. Weller stellte sich einen Aufruf der Mutter an ihren Sohn vor: »Bitte verschone die zwei Menschen, die noch in deiner Gewalt sind. Lass die Leute frei und stell dich den Behörden!«
    Würde er auf sie hören oder dann erst richtig durchdrehen und allen seine Macht über Leben und Tod demonstrieren? War das alles die Suche nach der Mutter und dem Vater?
    Weller rauchte im Büro eine Zigarette. Es war inzwischen 23 Uhr, und die Flut attackierte heftig die Deiche. Der Hamburger Hafen stand bereits unter Wasser. Auf Sylt und Juist brachen zur Meerseite hin Dünen ab, und es ging unwiederbringlich Land verloren. In den NDR -Nachrichten berichtete Anke Genius. Sie war auf Norderney. Hinter ihr schlugen die Wellen hoch, und der Wind zerrte an ihrem Ostfriesennerz. Sie musste sich mit einer Hand an einer Laterne festhalten.
    Am liebsten hätte Weller Ann Kathrin angerufen und ihr den recherchierten Lebenslauf von Thomas Hagemann vorgelesen. Aber vielleicht hatte sie sich hingelegt. Sie brauchte dringend ein bisschen Ruhe. Er wollte sie nicht wecken. Gleichzeitig kam ihm der Gedanke, sie könne in diesem Haus, beobachtet von Thomas Hagemann, wirklich einschlafen, absurd vor. Plötzlich wusste er, dass sie etwas im Schilde führte, wovon er keine Ahnung hatte. Etwas, das sie ihm nicht gesagt hatte. Und es gab nur einen Grund, ihm das zu verschweigen: sie wusste, dass er dagegen war und alles getan hätte, um es zu verhindern.
    »Du verrücktes Luder!«, schimpfte er, als ob sie bei ihm im Raum stehen würde. »Was hast du vor?«
    Mit der Zigarette im Mund lief er die Treppen hinunter, zum

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