Ostfriesenblut
Handfläche über das letzte flackernde Kerzenlicht. Er löschte das Licht langsam, genüsslich, so als ob seine Hand das Feuer streicheln würde. So erstickte er die Flamme. Es roch nach verbranntem Fleisch. Schmerzen schien er gar nicht zu kennen.
Er hatte Susanne Möninghoff die Augen nicht zugeklebt. Stolz zeigte er ihr jetzt die Innenfläche seiner Hand. Darin war ein schwarzer Fleck. Durch die offene Tür fiel genügend Licht herein, dass sie noch alles erkennen konnte.
»Siehst du«, sagte er ruhig, »man kann lernen. Schmerzen zu ertragen. Weißt du«, grinste er, »ich hab mir nachts immer selber Schmerzen zugefügt. Damit er mich nicht so fertigmachen konnte. Er staunte dann immer, wenn ich in der Lage war, so viel auszuhalten. Ich dachte immer, wenn ich den Schmerz nicht spüre, dann ist seine Macht über mich nicht so groß. Ich kann alles essen, weißt du. Ich esse Sachen, davon würde dir jetzt noch schlecht werden. Mäuse. Vergammeltes Fleisch. Und … «, er lachte, »einmal habe ich, als ich im Hungerloch saß, einen lebenden Frosch gegessen. Der hat in meinem Mund hin und her gestrampelt. Ich hab ihn mit den Zähnen geknackt wie Popcorn. – Du weißt gar nicht, was ein Hungerloch ist, hm? Du weißt so vieles noch nicht. Ins Hungerloch kamen wir, wenn andere Erziehungsmaßnahmen nicht mehr halfen. Wenn einem die Schmerzen nichts mehr ausmachten. Man konnte nicht aufrecht stehen darin, weiß du, man saß auf der bloßen Erde. Sie legten ein Brett oben drauf und fertig. Ich bin immer mit dem Kopf bis ans Brett gestoßen. Am Tag war es brüllend heiß da drin und stickig, und nachts fror man sich den Arsch ab. Es kam kein Licht rein und … Am schönsten war es, wenn der Regen darauf trommelte, dann hörten sie dich nicht, wenn du nachts geschrien hast. – Ich hab alles gegessen, was ich in meinem Loch zu fassen bekam. Käfer. Würmer. Und einmal hatte ich Glück, da hüpfte ein Frosch rein. So habe ich durchgehalten. Dem Körper ist es egal, woher das Eiweiß kommt. Das ist alles einfach nur Nahrung. Energie.«
Obwohl Susanne Möninghoff so festgeschnürt war, wollte sie sich bewegen. Ihm etwas sagen. Ihr Körper zitterte.
Er wandte sich ab. »Ich hab keine Zeit mehr. Ich muss … «
Mach nicht die Tür zu, dachte sie. Mach um Himmels willen nicht die Tür zu. Es soll nicht dunkel werden. Nicht dunkel werden!
Doch dann geschah auch das.
Der Fährverkehr nach Juist und Norderney war bereits eingestellt worden. Sämtliche Strandkörbe wurden hereingeholt. Die Ostfriesen waren Sturmfluten gewöhnt. Die meisten kamen im Herbst und im Winter, aber auch im Sommer konnte so etwas schon mal geschehen. Sie trafen ihre Sicherheitsvorkehrungen und trugen alles mit Gelassenheit.
Es war noch hell draußen, aber die Sonne stand schon tief. Er hatte seinen Wagen versteckt. Er konnte ihn nicht mehr benutzen, aber es war ja nicht weit zu Ann Kathrin Klaasen. Schon radelte er den Flökeshäuser Weg entlang ins Körnerviertel. Über ihm änderte sich der ostfriesische Himmel, aber er hatte keine Augen für das Naturschauspiel über sich.
Ihn trieb ein anderer Gedanke. Du willst mit mir sprechen? Du musst nicht an irgendeinen Ort der Welt kommen, Ann. Ich komme zu dir. Ich bin doch die ganze Zeit schon in deiner Nähe.
Wenn er mit sich allein war und an sie dachte, nannte er sie in letzter Zeit zärtlich Ann. Niemals hätte er sich ihr gegenüber so eine Unverschämtheit einfallen lassen. Das tat er nur in seinen Gedanken.
Glaub ja nicht, dass ich in deine Falle tappe. Du sitzt in meiner! Von wegen, du lässt dich gegen Susanne Möninghoff austauschen. Du willst doch nur wissen, wo sie ist, um mich dann zu packen. Selbst wenn ihr mich jetzt hier auf dem Rad erwischen würdet, ihr müsstet mich wieder freilassen. Er lachte. Schließlich ist sie in meiner Gewalt. Ich habe alles voll im Griff und total unter Kontrolle.
Jetzt war niemand mehr draußen. Der Wind heulte und riss im Roggenweg einen Blumenkübel von der Fensterbank. Die Geranien krachten auf den Boden.
Er versteckte sein Rad hinter der Hecke. Eigentlich wollte er die Dunkelheit abwarten und sich erst dann ins Haus begeben.
Doch es war so ungemütlich und stürmisch. Außerdem drängte es ihn danach, ihr endlich gegenüberzustehen.
Er hatte alles mitgebracht. Teppichklebeband. Sein Messer. Die Reitgerte.
Er stellte sich vor, wie er sie an einem Stuhl fixierte, damit sie endlich Zeit hatte, ihm in Ruhe zuzuhören. Dann würde er ihr seine
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