Ostfriesenblut
Hund. Ja. Hier war ein fremder Geruch. Undefinierbar, aber fremd.
Wie lange war ich hier nicht mehr, dachte sie. Sie bewahrten hier einiges Zeug auf, das sie nicht mehr brauchten. Alles war fein säuberlich in Kisten verpackt. Spielzeug von Eike, das er nicht mehr benutzte, eine Eisenbahn, Schlittschuhe, die ihm zu klein waren. Vier Kisten voll mit alten Kinderbüchern, für die in
den Regalen kein Platz mehr war, weil sie ständig neue kaufte, sich von den alten aber nicht trennen konnte.
Doch dann sah sie etwas zwischen den Kisten. Es war irgendein technisches Zeug. Eine Antenne. Etwas, das nicht da hingehörte.
Na klar, dachte sie. Die Webcams haben die Bilder zunächst hierhin übertragen. Und hier wurden sie dann verstärkt und weitergesendet. Was bist du nur für ein Sauhund?!
Wie lange mag er hier oben gewesen sein, dachte sie. Ist er nur einmal raufgekommen, um sein Zeug zu installieren, oder hat er Nächte hier oben in meiner Nähe verbracht? Hat er vielleicht sogar seinen Laptop mitgebracht und uns von hier oben direkt zugesehen? Ist er von hier oben runtergekommen, wenn er wusste, dass ich eingeschlafen war?
Sie schüttelte sich angewidert.
Als der Sturm kam, war sie gut vorbereitet, und ihrem Haus passierte nichts. Nur sie fühlte sich nicht mehr wohl darin. Sie stellte sich vor, wie Hagemann mit Werkzeug zu ihrem Haus kam, um übers Dach einzubrechen. Er wählte die Wetterseite zu den Bahnschienen hin. Hier konnte er unbeobachtet herumwerkeln, höchstens aus einem vorbeifahrenden Zug war er zu sehen. Was sich auf den ersten Eindruck dumm anhörte, durch das Dach einzusteigen, war im Grunde sehr clever. Es dauerte zwar lange und war viel mehr Arbeit, als eine Tür aufzubrechen, aber dafür blieb diese Art des Einbruchs unter Umständen monatelang unentdeckt.
Sie fand den Gedanken gruselig. Aber einmal im Haus, konnte er sich sämtliche Schlüssel kopieren. Für seine Art des Einbruchs sprach immer mehr, dachte Ann Kathrin Klaasen. Wenn ein Nachbar jemanden auf dem Dach sah, dachte er garantiert nicht an einen Einbrecher, sondern – gerade in Ostfriesland – an Reparaturarbeiten, um beim nächsten Sturm gerüstet zu sein.
Thomas Hagemann war schlau, und er wusste genau, was er tat.
Ann Kathrin wusste, dass es falsch war, und sie hatte eigentlich ganz andere Pläne, doch plötzlich begann sie zu schreien und zu kreischen. Sie bekam einen Wutanfall. Sie riss den Koffer vom Schlafzimmerschrank und trat und prügelte auf den Koffer ein, als ob sie so den Bösewicht treffen könnte. Dann holte sie die Webcam aus dem Koffer, warf sie gegen die Wand und zertrampelte sie. Jetzt war sie wenigstens hier im Schlafzimmer unbeobachtet.
Sie hatten sein Versteck auf dem Dachboden entdeckt. Klar. Aber er hatte auch nicht mehr vor, übers Dach einzusteigen oder dort oben zu nächtigen. Das hatte er damals gemacht, im Mai. Inzwischen hatte er längst Nachschlüssel fürs Haus.
Er beschloss, sie sich jetzt zu holen. Vielleicht würde sie ihn verstehen, wenn sie in der gleichen Situation war wie er damals. Ja, wahrscheinlich ging das Verstehen nur übers Erleiden.
Der Wind warf ihn fast um, als er aus dem Schatten der Bäume trat.
»Wir wissen alles über diesen Scheißkerl«, sagte Weller. »Bloß nicht, wo er ist.«
Der Lebenslauf von Thomas Hagemann lag lückenlos dokumentiert vor Weller:
Geboren 1970 in Bochum. Vater unbekannt, Mutter Prostituierte. Auffälligkeiten bei der Einschulung. Wurde im Alter von sieben Jahren aus einer vermüllten Wohnung vom Jugendamt in Obhut genommen. Mehrere Versuche in Pflegefamilien scheiterten. Immer wieder lief der Junge weg und suchte seine Mutter. Er lebte wochenlang wohnsitzlos auf der Straße, bevor er verdreckt und halb verhungert wieder aufgegriffen wurde.
Er litt an schweren Asthmaanfällen und wurde wegen der guten
Luft auf Empfehlung des Arztes ins Reizklima der Nordsee gebracht. Außerdem sollte eine möglichst große Entfernung zu seiner Mutter eine positive Entwicklung beeinflussen.
Der aufsässige Junge machte eine Odyssee durch mehrere Heime, galt als schwer erziehbar und nicht integrierbar. So landete er schließlich bei Heinrich Jansen. Auch dort mehrere Ausbruchsversuche, die Polizei brachte ihn aber immer wieder zurück. Er machte eine Dachdeckerlehre, die er auch erfolgreich abschloss.
Mehrere Jugendstrafen wegen Hausfriedensbruch und Vandalismus. Er versuchte, in Häusern von fremden Familien zu leben, als sei er ein Angehöriger. Er
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