Ostfriesenblut
Innenhof. Der von den Bauern lang erwartete Regen war endlich da. Weller sah auf die Autodächer, und das Wort Wolkenbruch bekam eine ganz neue Dimension für ihn. Wie Kugeln peitschten die schweren Tropfen vom Himmel, schlugen auf den Dächern auf und zerplatzten in einem Dauerfeuer.
Er war nicht der Typ für einen Regenschirm. Außerdem hätte der Wind nur Sekunden gebraucht, um dem Regenschirm sämtliche Gelenke zu brechen.
Weller zog seine Jacke aus und hielt sie sich über den Kopf.
Er rannte zu seinem alten Mondeo und schloss auf. Nicht zum ersten Mal bedauerte er, dass er den Wagen nicht aus der Ferne elektronisch mit seinem Schlüssel öffnen konnte. Als er sich hinters Steuer klemmte und seine Jacke auf den Beifahrersitz legte, war sie bereits durchnässt.
Ich werde einfach hinfahren, dachte er. Selbst wenn sie sauer auf mich wird. Ich muss das riskieren. Ich kann sie in diesem Haus nicht alleine lassen. Das ist unverantwortlich. Ich weiß gar nicht, wie ich mich überhaupt dazu breitschlagen lassen konnte.
Er ließ den Wagen an. Die Scheibenwischer schafften den Regen kaum. Die Straßen waren menschenleer. Alle Fenster waren geschlossen. Wer Rollläden besaß, hatte sie längst heruntergelassen.
Regen und Wind waren so stark, dass Weller die Nachrichten nicht verstand. Er drehte das Radio lauter, um die Berichte von den Inseln zu hören. Die Inseln waren fürs Festland eine Art Schutz gegen die erste Wut der Sturmflut.
Natürlich sprach danach im Radio wieder ein Klimaforscher über die drohende Katastrophe für die Küste. Dies sei alles nur der Anfang. Bald schon würde Münster am Meer liegen und den Hafen zu einem Seehafen ausbauen.
Weller wollte das alles so nicht glauben. Ihm gefiel es hier. Er wollte hierbleiben und hier alt werden. Am liebstem mit Ann Kathrin. Er stellte sich vor, mit ihr im Strandkorb zu sitzen und auf die friedliche Nordsee zu blicken und nach einem erfüllten, arbeitsreichen Leben die Rente zu genießen. Falls es dann noch eine Rente gab.
Gerne wäre Weller 200 gefahren, aber er fuhr nur 30 , was eigentlich bei diesen Sichtverhältnissen immer noch viel zu schnell war. Er sah im Grunde keine zwei Meter weit. Der Regen wurde zu einem dichten Vorhang. Der Lärm im Wagen wurde durch das Trommelfeuer der Regentropfen so groß, dass Weller die
Stimme im Radio nicht mehr verstand, obwohl er voll aufgedreht hatte.
Im Grunde müsste ich anhalten und warten, bis alles vorbei ist, dachte er. Aber er wollte zu Ann Kathrin. Jetzt sofort.
Aber dann war er doch gezwungen anzuhalten, weil er nicht mal mehr seinen eigenen Kühler sehen konnte.
Ann Kathrin Klaasen hörte nicht, dass die Tür aufgeschlossen wurde. Der Regen prasselte so heftig auf ihre Einfahrt, dass die Bewegungsmelder die Beleuchtung gar nicht mehr ausgehen ließen, als sei der Regen eine sich nähernde Person.
Ann Kathrin war oben, in dem Raum, in dem die Aufzeichnungen vom Banküberfall in Gelsenkirchen die Wände zierten. Hier fühlte sie sich ihrem Vater besonders nah, und von hier aus konnte sie das Naturschauspiel beobachten.
Ihre Dachrinnen schafften die Wassermassen kaum. Im Abflussrohr gab es einen Stau. Da war ein Gurgeln, ein Rülpsen und ein Schlucken, als würde das Haus lebendig.
Als sie ein kleines Mädchen war, hatte ihr Vater sie in solchen Situationen ein paar Mal geweckt. Er hatte sie dann auf den Arm genommen und ihr am offenen Fenster gezeigt, was draußen geschah. Die Gabelung der Blitze, das Donnergrollen, die Regengüsse – all das verband sie innerlich mit dem warmen, starken Arm ihres Vaters, der sein Mädchen schützte und trug und ihr die Welt erklärte.
Er könnte jetzt noch leben, dachte sie, wenn dieser verfluchte Bankräuber nicht gewesen wäre.
Manchmal, wenn sie sich ihm so nah fühlte, war es, als würde er plötzlich den Raum betreten. Stumm, aber voller Liebe. Sie fühlte sich dann weniger allein. Ab und zu sprach sie sogar mit ihm, wie andere vielleicht beteten oder Selbstgespräche führten. Auch jetzt fühlte sie, dass sie nicht mehr allein im Zimmer war. Doch es war anders als sonst. Da war keine gute Kraft einer
alten Erinnerung. Da war etwas anderes. Das war zornig und böse und fühlte sich unverstanden. Sie roch ihn. Er war hier bei ihr im Haus!
Sie fuhr herum und sah in das Gesicht von Thomas Hagemann. Er war nass, als sei er gerade erst aus dem Meer gezogen worden. Mit jedem Schritt hinterließ er eine Wasserspur. Es triefte aus seinen Ärmeln und seinen
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