Ostfriesenblut
Hosenbeinen.
Die Klinge von seinem finnischen Jagdmesser blitzte. Er drückte es Ann Kathrin an den Hals.
»Wann ich will«, zitierte er sie. »An jedem Ort der Welt. Ich habe mich für jetzt entschieden, und genau hier.«
Ann Kathrin machte zwei Bewegungen gleichzeitig. Sie musste nicht darüber nachdenken. Es war ein antrainiertes Verhalten. Sie schlug mit beiden Armen gegen den Ellbogen seines rechten Arms, der das Messer führte. Im selben Moment sprang sie nach hinten, um Abstand zwischen ihren Hals und die Klinge zu bringen. Als Nächstes trat sie ihm in den Schritt.
Er brüllte auf und beugte sich vor. Schon bekam sie seine Messerhand zu fassen und drehte ihm den rechten Arm auf den Rücken. Das Messer fiel zu Boden.
»Ja«, sagte sie, »wann Sie wollen und wo Sie wollen. Aber von einem Messer war nicht die Rede. Ich sagte, ich komme ohne Waffe, und ich dachte, Sie täten das auch.«
Sie hatte ihn für einen Moment unter Kontrolle, doch sie spürte die unbändige Kraft, die in diesem Mann steckte. Trotzdem versuchte sie, ihn jetzt von hinten in den Würgegriff zu nehmen.
»Hören Sie auf mit dem Scheiß«, zischte er, »sonst wird Susanne Möninghoff sterben und Heinrich Jansen sowieso.«
Sie wusste nicht genau, warum sie es tat. Vielleicht waren es seine Worte. Vielleicht wollte sie ihn auch einfach nur verblüffen. Jedenfalls ließ sie ihn einfach los und stieß ihn von sich. Mit der Fußspitze schoss sie das Messer so weit wie möglich
von ihm weg. Er drehte sich um und sah sie verwirrt von unten an. Noch immer krümmte er sich vor Schmerz.
Mühsam machte er sich gerade. »Sie wissen, wo man hintreten muss, damit es wehtut«, grinste er. »Ich weiß es auch.«
Er hob die Fäuste und testete mit der linken Führhand ein paar Mal ihre Reaktionsschnelligkeit. Die rechte Schlaghand hielt er abschussbereit, um Ann Kathrin Klaasen auszuknocken.
Sie registrierte das genau, arbeitete schnell mit dem Oberkörper und noch flinker mit den Beinen. Sie tänzelte um ihn herum, tauchte nach rechts ab, dann nach links, sprang vor und zurück. Er hatte Mühe, ihre Position im Raum zu finden. Er wollte sie in eine Ecke drängen, um sie dort stellen zu können.
Plötzlich sprang er in die Luft, und sein rechter Fuß traf ihre Schläfe. Ann Kathrin spürte diese dumpfe Explosion im Kopf und brach zusammen. Zum zweiten Mal an diesem Tag lag sie in ihrer eigenen Wohnung auf dem Boden. Und wieder einmal hatte eine Aktion von Thomas Hagemann sie aus dem Gleichgewicht gebracht.
»Ich glaube, wir unterhalten uns besser woanders«, sagte er. »Hier sind Sie mir einfach zu aggressiv.«
Er nahm sein Messer wieder an sich. »Gehen Sie vor«, forderte er sie auf. »Und keine Fisimatenten. Sonst breche ich Ihnen beide Arme. Zwingen Sie mich nicht, ein böser Junge zu werden.«
Sie ging voran, die Treppe hinunter. Meine Dienstwaffe, dachte sie. Ich werde im Rausgehen meine Waffe an mich nehmen, und dann habe ich ihn.
Sie nahm ihre schwarze Handtasche vom Garderobenständer. Sie war erstaunlich leicht.
»Suchen Sie das hier?«, fragte er und lud ihre Heckler & Koch P 2000 mit metallischem Klicken durch. »Ich bin kein Idiot. Und ich kenne mich aus hier«, lächelte er.
Er erlaubte noch, dass Ann Kathrin sich die Regenstiefel
anzog und einen leichten Sommermantel, obwohl der bei dem Regen völlig sinnlos war. Dann dirigierte er sie weg von der Haustür, quer durchs Haus, in die Garage.
Sie stiegen in den froschgrünen Twingo. Er setzte sich auf den Beifahrersitz, legte seinen linken Arm locker um ihre Schultern, wie ein Verliebter, drückte allerdings dabei die Mündung ihrer Dienstwaffe gegen ihren Hals.
»Wohin fahren wir?«, fragte sie.
»Es ist nicht weit. Ich zeige es Ihnen schon. Erst mal raus aus dem Körnerviertel. Und dann immer schön die Störtebekerstraße entlang, den Deich in Sichtweite. Leider können wir ihn heute ja nicht sehen. Das Wetter macht uns einen Strich durch die Rechnung. Aber wissen Sie, was der Vorteil davon ist?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Uns wird auch niemand sehen. Nicht mal Ihre Nachbarn, wenn sie aus dem Fenster gucken. Warum soll einer wie ich nicht auch mal Glück haben?«
»Und wenn wir da sind, wo Sie hinwollen, machen Sie uns dort einen guten Ostfriesentee und erzählen mir Ihr Leben, oder was?«, fragte Ann Kathrin.
»So ähnlich«, sagte er.
Ubbo Heide hatte recht, dachte sie. Ein altes, verlassenes Gebäude. Über kurz oder lang werden die Kollegen es finden. Sie
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