Ostfriesenblut
werden alles durchsuchen. Alte Bunker. Verlassene Fabrikhallen. Ruinen. Leerstehende Häuser. Wahrscheinlich ist diese Ziegelei ganz oben auf unserer Liste.
Er zwang sie, den grünen Twingo in eine halb eingestürzte Herstellungshalle zu fahren. Dann forderte er sie auf: »Bitte werfen Sie die alte Öldecke darüber und die Decke da hinten.«
Er bleibt merkwürdig höflich, dachte sie, als wollte er mir beweisen, dass er immer noch gute Manieren hat. Sie folgerte daraus, dass die ungeheuerlichsten, grausamsten Dinge in seinem
Leben passiert waren, eingebettet in Höflichkeitsfloskeln und Umgangsformen.
Das Schreckliche wird noch schlimmer, wenn es einen anständigen, sauberen Rahmen bekommt, dachte sie. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Ihre Hände waren feucht. Sie stellte fest, dass sie sich nicht wirklich fürchtete, sondern eine Art Triumphgefühl durchflutete sie. Sie war ganz nah dran. Sie würde hier heil herauskommen. Sie wartete nur auf eine Gelegenheit, ihn zu entwaffnen.
Als Kämpfer war er sicherlich zu fürchten. Aber ihre Nahkampfausbildung war auch nicht zu verachten. Bis vor zwei Jahren hatte sie regelmäßig im Judoverein trainiert und besaß den grünen Gürtel. Den gelben hatte sie schon als Kind gemacht. Damals lebte ihr Vater noch. Ihm war es immer wichtig, dass seine Kleine lernte, sich zu wehren. Wie stolz er gewesen war, wenn sie ihn mit einem Hüftwurf aufs Kreuz legen konnte …
Als sie den orangen Gürtel erwarb, hatte eine Kugel seinem Leben schon ein Ende bereitet. Damals war es für sie, als würde sie die Judoprüfung für ihren Vater machen. Sie hatte das Gefühl, dass er ihr stolz zusah.
Den grünen Gürtel kriegte sie nur noch mit Mühe und Not hin. Das regelmäßige Training fiel schwer. Da war der zermürbende Polizeidienst. Ein Kind, das versorgt werden wollte. Ein Privatleben und ein Mann und Freunde, für die sie Zeit brauchte.
Bei dem Gedanken an ihre Freunde spürte sie einen wehmütigen Stich. Im Grunde war ihr nur noch eine Freundin geblieben, Ulrike, die halbtags arbeitete und sich ansonsten der Erziehung ihrer Tochter widmete. Ihre Lebenssituationen waren so unterschiedlich. Sie hatten sich kaum noch etwas zu sagen. Manchmal, am Telefon, entstand eine fast peinliche Situation des Schweigens zwischen ihnen. Beim letzten Mal war Ulrike offen damit herausgeplatzt: »Wenn du erzählst, was du so treibst,
Ann Kathrin, kommt mir mein Leben immer so belanglos vor, als würdest du das Eigentliche tun, die wilden Sachen erleben, während ich nur … meine Tochter zum Schwimmunterricht fahre und dann das Abendessen vorbereite.«
Sie konnte es wenigstens sagen. Das gelang Ann Kathrin nicht, denn im Grunde fühlte sie etwas Ähnliches ihrer Freundin Ulrike gegenüber, als würde die das wirklich Wichtige im Leben tun. Nämlich ihr Kind großziehen. Es bewusst aufwachsen sehen und die Beziehung zu ihrem Mann pflegen.
All das jagte durch Ann Kathrins Kopf, während der Lauf ihrer Dienstwaffe auf sie gerichtet war und sie ihren Wagen mit ölverschmierten Säcken und herumliegender aufgeweichter Pappe gegen die Blicke ihrer Kollegen schützte.
»Okay, das reicht jetzt«, sagte er. »Danke. Das haben Sie ganz prima gemacht. Jetzt gehen wir besser runter zu den anderen.«
Ann Kathrin streckte ihm ihre offene Hand entgegen. »Wenn Sie mir jetzt die Waffe geben, werde ich für Sie aussagen. Ich kann Ihnen helfen. Sie haben mich freiwillig zu Ihrem Versteck gebracht und mir ohne Bedingungen die Entführten übergeben.«
Er legte seinen Kopf schräg und sah sie an. Sie hielt die Hand weiterhin ausgestreckt und suchte Blickkontakt.
»Mir ist nicht mehr zu helfen, Frau Kommissarin. Ich habe fünf Menschen auf dem Gewissen. Da darf man nicht mit Gnade rechnen.«
Er hatte gesagt, fünf Menschen. Sie zählte nach. Das bedeutete, Heinrich Jansen und Susanne Möninghoff mussten noch leben. Was sie hier tat, war nicht sinnlos.
»Es gibt etwas im Gesetz, das heißt
Zurücktreten von der Tat
«, sagte sie. »Sie können jetzt noch von der nächsten Tat zurücktreten. Das wirft ein anderes Licht auf Sie. Sie sind doch kein schlechter Mensch. Sie sind nicht als Mörder geboren worden, Thomas. Sie sind zum Mörder gemacht worden.«
Seine Lippen verzogen sich zu einem kurzen Lächeln. Ja, so sprach die Kommissarin, die er aus dem
Ostfriesischen Kurier
kannte. So hatte Holger Bloem sie beschrieben. Aber da blieb ein Misstrauen in ihm.
»Was wissen Sie denn schon von mir? Sie reden
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