Ostfriesenblut
nackte Lehrerin bloßzustellen. Statt uns einfach mitzuteilen, dass etwas mit dem Tod von Frau Orthner nicht stimmt, legen sie mir die Leiche vor die Tür.
»Es war ein Jugendlicher«, sagte sie wie zu sich selbst, doch laut genug, dass Weller es hören konnte. Er wusste sofort, woran sie dachte.
Er nickte: »Ja. Garantiert. Ein Enkelkind.«
»Häh? Was?«, fragte Rupert.
Eike war sich nicht ganz im Klaren darüber, ob seine Mutter gerade mit einem unheimlich intelligenten Schachzug die Aufmerksamkeit der Kripobeamten von ihm weg auf einen anderen Fall lenkte oder ob er für sie so uninteressant war, dass sie keine Lust hatte, sich mit den Ungerechtigkeiten zu beschäftigen, die ihm in der Schule widerfahren waren. Er fragte sich, ob sie den Namen seiner Lehrerin überhaupt kannte. Elternabende waren die Sache von seinem Vater gewesen. Den ganzen »schulischen Bereich«, wie sie es immer so schön nannte, hatte er betreut.
Ann Kathrin Klaasen und Frank Weller standen jetzt so nah beieinander, dass ihre Körper sich fast berührten. Sie konnte seinen Atem riechen und er ihren. Sie waren so sehr mit sich und ihrem Fall beschäftigt, dass Eike und Rupert für einen Moment völlig in den Hintergrund gerieten. Spätestens jetzt merkte jeder im Raum, dass die beiden etwas miteinander hatten.
»Ein Enkelkind kriegt mit, dass die Oma umgebracht wird, weil sie ein großes Vermögen auf der Bank hat, und um den
beiden eins auszuwischen, legt dir das Enkelkind die Leiche vor die Tür.«
»Vielleicht hat das Kind auch nur einen Verdacht«, sagte Ann Kathrin, »und will uns dazu bringen, alles zu überprüfen … «
Rupert fühlte sich von der Zweisamkeit der beiden geradezu bedroht. »Soll ich mit deinem Sohn vielleicht solange rausgehen?«, fragte er bissig. »Weller und du – ihr beide habt euch doch bestimmt noch viel zu erzählen, und da wollen wir doch nicht stören … «
Plötzlich wendete sich Ann Kathrin Rupert zu. Sie machte zwei Schritte in seine Richtung. Dabei wirkte sie katzenhaft, als wolle sie gleich die Krallen ausfahren und ihn anspringen. Sie klatschte mit der flachen Hand auf ihren Schreibtisch, wie sie es manchmal tat, wenn ein Verdächtiger nach endlosem Herumgeeiere endlich gestand: »Also gut, Rupert. Du hast Eikes Geständnis. Er hat einen festen Wohnsitz. Es besteht keine Fluchtgefahr. Er wird hier als Beschuldigter vernommen, muss also überhaupt nichts sagen. Er wird jetzt nach Hause gehen und sich das alles nochmal in Ruhe überlegen. Deine Fragen kannst du ihm schriftlich stellen. Er wird sie mit seinem Anwalt beantworten.«
Rupert kratzte sich. »Ja, soll das etwa heißen, dass … «
Ann Kathrin nickte. »Ja. Genau das soll es heißen. Die Sitzung hier ist beendet.«
Ihre Worte ließen keinen Widerspruch zu, und juristisch befand sie sich auf sicherem Boden. Rupert gab sich geschlagen.
Eikes Augen weiteten sich und bekamen einen fiebrigen Glanz. Ein bisschen bewunderte er seine Mutter gerade. So kannte er sie gar nicht. So klar, so resolut, sich für ihn einsetzend. In der Schule hatten sie gerade den Gordischen Knoten durchgenommen, und er hatte den Eindruck, jetzt bei der Zerschlagung von so einem Knoten dabei gewesen zu sein.
Ann Kathrin Klaasen brachte ihren Sohn noch bis zur Tür und wollte ihm Geld für ein Taxi zustecken, damit er zu seinem
Vater zurückfahren konnte. Eike war enttäuscht und erleichtert zugleich. Einerseits hatte er keine Lust, sich in endlosen Entschuldigungen ergehen zu müssen, andererseits hätte er den Kontakt zu seiner Mutter jetzt sehr gebraucht. Aber es gab mal wieder Wichtigeres als ihn. Einen anderen Fall. Jemanden, der noch krimineller war als er. Eine Bombenattrappe im Hauptbahnhof reichte nicht aus. Unter einer Leiche tat sie es nicht.
Er fühlte sich besiegt, geschlagen, aus dem Feld geworfen.
Während Ann Kathrin Klaasen noch nach Geld kramte, fuhr Susanne Möninghoff auf den Parkplatz. Sie öffnete die Tür ihres blauen Polos weit und winkte: »Eike! Ich bin hier! Komm, ich fahr dich nach Hause!«
Susanne Möninghoff trug ein Kostüm, das ihre mächtige Oberweite voll zur Geltung brachte, und einen für Ann Kathrin Klaasens Geschmack viel zu kurzen Rock.
»Kann sein Vater ihn nicht abholen?«, zischte Ann Kathrin zorniger, als ihr lieb war.
Susanne Möninghoff ballerte kraftvoll zurück: »Er ist bei einer hysterischen Patientin, die sich das Leben nehmen will. Sie sitzt auf dem Dach der Ludgerikirche, und er versucht, sie
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