Ostfriesenblut
kam sich ihm gegenüber irgendwie unterlegen vor. Vielleicht lag es an den vielen BHs.
Weller stellte sich gerade vor, dass er Frauen darauf ansprach, ob sie sich von ihm barbusig fotografieren lassen würden. Er wusste, dass er so etwas nicht bringen würde. Er hätte es als junger Mann nicht geschafft und jetzt erst recht nicht.
Vielleicht war das Ganze auch eine Lüge. Eine Show, nichts weiter. Vielleicht hatte er die BHs im Sommerschlussverkauf erstanden, und die Fotos waren nur Fotokopien aus Zeitungen und Zeitschriften. Mit ihrer stümperhaften Belichtung erinnerten die Fotos Weller allerdings eher an frühe Polaroid-Schnappschüsse als an Aufnahmen echter Profifotografen.
Weller fragte sich zum wiederholten Male, ob es als abgemacht zwischen ihm und Ann Kathrin galt, dass er heute Abend wieder mit ihr nach Hause gehen würde. Sollte er wieder bei ihr übernachten, oder musste er zurück in seine Wohnung? War es an der Zeit, die Zahnbürste zu holen und ein paar Kleidungsstücke?
Weil weder Ann Kathrin noch Weller etwas sagten, begann Bastian Kühlberg die Stille als unangenehm zu empfinden und
plapperte drauflos: »Hören Sie, ich habe meiner Oma ganz sicherlich nichts getan. Im Gegenteil. Ich mochte sie. Ich habe sie mindestens einmal pro Woche besucht, meistens öfter.«
Ann Kathrin Klaasen unterbrach ihn ungläubig: »Na dann sind Sie aber eine löbliche Ausnahme. Ich kenne nicht viele junge Männer, die sich so sehr um ihre Omis kümmern.«
»Hm«, sagte Weller, »das Verhältnis von Ihrer Mutter zu Ihrer Oma war aber nicht das beste, oder?«
Bastian Kühlberg stöhnte und ballte die rechte Faust. »Waren Sie im Krankenhaus? Hat sie Ihnen das erzählt? Ich kann das nicht mehr hören! Die soll doch endlich aufhören mit diesen alten Kamellen!«
»Angeblich hat Ihre Oma Ihre Mutter früher angebunden und … «, begann Weller.
Bastian Kühlberg sah aus, als müsse er sich gleich übergeben. »Glauben Sie, meine Kindheit hat Spaß gemacht? Können Sie sich vorstellen, was das heißt, mit einer psychisch kranken Mutter aufzuwachsen? Die meiste Zeit saß die doch depressiv in der Ecke und weinte. Was immer in ihrer Jugend passiert sein mag, es ist verdammt lange her! Sie hat damit auch meine Kindheit und Jugend versaut, wenn Sie wissen, was ich meine!«
Ann Kathrin Klaasen wusste aus Erfahrung, dass man solche Aussagen nicht einfach stehenlassen durfte. Es ging immer ums Konkrete, ums Detail. Sie hatte gelernt, sich niemals mit allgemeinem Geschwätz zufriedenzugeben: »Nein. Was meinen Sie denn?«
Bastian geriet sofort aus dem Konzept. Alte Wut stieg in ihm hoch: »Die hat mich doch überhaupt nicht gesehen, sondern immer nur ihre Kindheit beweint. Ich bin mit dem Gefühl aufgewachsen, ich sei auf der Welt, um meine Mutter glücklich zu machen. Können Sie sich vorstellen, was das für ein Kind bedeutet? Welche Scheiß-Verantwortung sie damit auf mich geladen hat? Es ging immer nur darum, sie einmal zum Lächeln zu
bringen! Ihre Scheiß-Angstgefühle hat sie auf mich übertragen. Nicht genug, dass sie sich nicht aus dem Haus traute, o nein. Sie hat mir auch erzählt, wie furchtbar es draußen ist und wie gefährlich. Die Welt vor unserer Haustür bestand für mich aus wildgewordenen Massenmördern und Kinderschändern. Das Softeis war voller krankmachender Salmonellen, an jedem Stück Bratwurst klebte Blut, und ich schämte mich, schöne Klamotten zu tragen, weil man ja nie weiß, ob die von Kindern in der dritten Welt hergestellt worden sind! Ich bin in einem Albtraum groß geworden, Frau Kommissarin!«
»Und Ihr Vater?«, fragte Weller.
Bastian atmete aus, als hätte er einen zu tiefen Zug an einer starken Zigarette getan, dann hustete er: »Mein Vater, der ist doch jetzt noch völlig fixiert auf meine Mutter. Es geht nur um sie. Ich hab keine Ahnung, was der im Zusammensein mit ihr abbüßt. Normal ist das alles jedenfalls nicht. Ich bin froh, dass ich endlich meine eigene Bude habe und einigermaßen unbeschadet aus diesem Neurosenhaus rausgekommen bin. Wenn ich es gar nicht mehr aushielt, bin ich zu meiner Oma geflüchtet. Die war von allen die Normalste, wenn Sie mich fragen! Sie hat mich oft getröstet. Wir haben zusammen Filme geguckt und … «
Wasser füllte seine Augen. Er kämpfte nicht dagegen an und wischte die Tränen mit dem Handrücken achtlos weg.
Weller hielt die Zeit für gekommen, zum Generalangriff überzugehen: »Glauben Sie, dass Ihre Mutter etwas mit dem Tod Ihrer Oma zu
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