Ostfriesenblut
Gefühl nicht wehren, männlichen Schutz zu genießen. Natürlich kam sie selbst klar. Sie hatte im Lauf ihres Lebens so manchen Strauß ausgefochten. Sie ließ sich weder von Kollegen an die Wand drücken noch von Ganoven. Selbst bei einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen Rupert und ihr würde der Sieger nicht von vornherein feststehen.
Trotzdem genoss sie es, dass da ein Mann war, der sich für sie einsetzte. Wütend wurde, wenn ihr Unrecht geschah, und peinlich
genau darauf achtete, dass man anständig mit ihr umging. Früher hatte ihr Mann Hero das getan. Sie erinnerte sich an eine geradezu lächerliche Situation. Im Urlaub, in einem Ferienhäuschen in Dänemark, hatten sie geglaubt, ein Autodieb würde sich draußen an ihrem Wagen zu schaffen machen. Sie wurde gleich ganz die Kommissarin und wollte den Dieb stellen, doch Hero bestand darauf, dass dies seine Aufgabe sei. Im Dienst sollte sie ruhig Verbrecher jagen, für den Schutz der Familie fühlte er sich zuständig.
Natürlich entwischte der Autodieb, und Hero kam mit einem blauen Auge wieder zurück. Er trug es wie einen Orden.
»Es war ein Scherz!«, platzte Eike plötzlich heraus. »Wir wollten der blöden Kuh eins auswischen, weil sie immer so gemein ist … «
Rupert schmunzelte. Er hob ein paar Papiere hoch und blätterte darin. »Da wird sich deine Mami aber freuen. Weißt du, was die Räumung vom Hauptbahnhof Hannover gekostet hat? Es wurden Züge umgeleitet. Selbst in Köln gab es noch Verspätungen von zwei Stunden und mehr. Da dürften Forderungen von gut zweihunderttausend Euro auf deine Familie zukommen. Teurer Scherz, was?«
Eike war leichenblass und zitterte. Ann Kathrin Klaasen warf Rupert einen wütenden Blick zu.
Weller beugte sich zu Eike und flüsterte: »Du musst jetzt gar nichts sagen.« Dann schaute er unsicher zu Ann Kathrin. Sie sollte nicht glauben, dass er sich jetzt schon bei Eike als Vater aufspielen wollte. Aber das Ganze hier nahm doch bedrohliche Ausmaße an.
»Es ist wohl im Interesse aller«, sagte Rupert sachlich, »wenn du endlich mit den Namen deiner Komplizen rausrückst. Eure Familien können sich dann ja die Rechnung teilen.«
»Muss das jetzt sein?«, fragte Weller aufgeregt. Um überhaupt etwas tun zu können, ging er zur Espressomaschine und drückte
so lange aufs Display, bis die drei Kaffeebohnen erschienen, die stärkste mögliche Espressozubereitung. Er machte gleich zwei Doppelte.
Das Zermahlen der Kaffeebohnen war so laut, dass Ann Kathrin ihrem Sohn die Worte von den Lippen ablesen musste. Aber er wiederholte sie dann brav noch einmal: »Das alles war überhaupt nicht so geplant. Aber als ich sie auf Norderney sah, hab ich eben die Fotos gemacht … Ich hab sie an meine Kumpels verschickt und … «
Rupert klatschte lachend in die Hände, als sei das ein gelungener Witz. »Jaja, so sind sie, die Jugendlichen von heute. Wir haben Briefmarken gesammelt, und sie tauschen Nacktfotos.«
»Der Uwe hat seiner Schwester ein paar Dessous geklaut, und der Holger hatte die Idee mit dem Wecker und dem Koffer. Wir wollten einfach … «
»Ja? Was wolltet ihr?«, hakte Rupert lauernd nach.
Eike schluckte und sagte nichts mehr.
Weller stellte eine Espressotasse vor Ann Kathrin auf den Tisch. Sie nickte dankbar, rührte den Espresso aber nicht an. Weller schlürfte seinen extra laut, weil er wusste, dass Rupert laute Ess- und Trinkgeräusche hasste, wie das Quietschen von Styropor auf Glas.
Versage ich hier als Mutter gerade restlos?, fragte Ann Kathrin sich. Wird mein Sohn irgendwann bei einem Therapeuten sitzen und davon erzählen, wie kläglich seine Mutter ihn während dieses traumatischen Verhörs hängenließ? Sie, die clevere Kripobeamtin, überließ das Feld ihrem neuen Liebhaber … Je mehr sie solche Gedanken dachte, umso schwieriger erschien es ihr, etwas Vernünftiges zu sagen. Sie kam sich merkwürdig ausgeknockt vor, als würde sie das alles erleben, ohne wirklich eingreifen zu können.
»Sie wollten etwas aufdecken, hm?«, bot Weller an. »Eine Ungerechtigkeit. Stimmt’s?«
Eike nickte.
»Gute Idee«, spottete Rupert. »Wenn wir bei jeder Ungerechtigkeit unserer Lehrer einen Bombenalarm ausgelöst hätten, dann … «
Das ist es, dachte Ann Kathrin Klaasen und war ihrem Sohn plötzlich fast dankbar. Vielleicht sind Jugendliche heute so. Sie neigen zu großen, dramatischen Aktionen. Statt sich über eine schlechte Schulnote zu beschweren, bauen sie eine Riesengeschichte, um ihre
Weitere Kostenlose Bücher