Ostfriesenblut
in die Leichenhalle eingedrungen und hätten »mit den Toten Sachen angestellt«.
»Was für Sachen?«, wollte Ann Kathrin wissen.
Er zierte sich. Sie gab ihm Zeit, mit der Wahrheit herauszukommen.
Sie zeigte auf die Wacholdersträucher und die Efeupflanzen und fragte ihn, ob er die beschnitten habe und so schön pflege. Bei ihr würde das nie etwas.
Er lächelte und bekam wieder ein bisschen Boden unter die Füße. Er erzählte, es gebe so viele Perverse auf der Welt, und einige Schweinereien könne man mit Lebenden eben nicht machen,
sondern höchstens mit Toten. Aber mitgenommen habe noch nie einer eine Leiche, das sei neu.
»Wurde damals Anzeige erstattet?«, fragte Ann Kathrin Klaasen und ahnte die Antwort.
»Nein, natürlich nicht. Die Toten wurden wieder würdig hergerichtet, und die Angehörigen haben nicht mal etwas gemerkt. Der Pastor wollte ihnen den Kummer ersparen.«
Konnte es sein, dass bei der Obduktion irgendwelche Spuren sexuellen Missbrauchs übersehen worden waren? Im Bericht hatte nichts Derartiges gestanden. Es war diesmal schneller gegangen als je zuvor, aber das war doch immer das erste, wonach gesucht wurde.
Wieder machte der alte Gärtner eine Kopfbewegung nach hinten zum Friedhofsverwalter, der sich an der Eingangstür noch mit Weller unterhielt und versuchte, die ganze Sache herunterzuspielen.
»Er wird doch nicht erfahren, dass ich Ihnen was gesagt habe?«
Ann Kathrin beruhigte ihn: »Keine Angst. Ich weiß einen guten Informanten zu schützen. Aber ich brauche trotzdem Ihren Namen und Ihre Adresse.«
»Ich arbeite gerne hier. Dies ist ein guter Job.«
»Wie lange sind Sie schon hier?«
»Seit siebenundzwanzig Jahren.«
Ann Kathrin Klaasen verstand, dass die meisten Bäume, die er gepflanzt hatte, inzwischen viel größer waren als er selbst. Doch bevor sie seinen Namen und seine Adresse notieren konnte, klingelte ihr Handy. Unter den vielen Klingeltönen, die ihr Ruftonspeicher anbot, hatte sie einen gefunden, den sie besonders originell fand: Das Ring-Ring von einem alten Telefon. Es war Rupert. Sie ging augenblicklich dran.
Sie fand seine Stimme immer ein bisschen unverschämt. Die leichte Arroganz um seine Mundwinkel, wenn er über Verdächtige
sprach oder neue Dienstpläne, machte sie manchmal ganz schön sauer. Aber jetzt klang da mehr mit: Häme. Eine gewisse Schadenfreude und gleichzeitig der Versuch, dies alles zu unterdrücken.
»Rate mal, wen ich gerade verhaftet habe?«
Sie wies ihn sofort zurecht: »Dies ist kein Quiz. Wir sind hier nicht bei Günter Jauch.«
»Vor mir sitzt dein flennender Sohnemann. Ich dachte, das interessiert dich vielleicht.«
Es war, als würde ihre Wirbelsäule glühen. Sie erstarrte innerlich und schien gleichzeitig zu brennen. Der Friedhofsgärtner merkte, dass etwas mit ihr nicht in Ordnung war, und machte eine Bewegung in ihre Richtung, um sie zu halten, falls sie ohnmächtig werden würde. Ann Kathrin Klaasen bedeutete ihm, dass alles in Ordnung sei. Sie wunderte sich, dass sie zu dieser Geste überhaupt in der Lage war.
Unaufgefordert erzählte Rupert jetzt mit wachsender Fröhlichkeit die ganze Geschichte: »Du erinnerst dich an die Bombe im Hauptbahnhof Hannover?«
»Der Koffer mit dem tickenden Wecker darin?«
Die Sache war vor wenigen Tagen passiert und hatte für Ann Kathrin kaum eine Bedeutung. Einer der zahlreichen Trittbrettfahrer, die die Macht genossen, einen Hauptbahnhof für eine Weile mit einer Bombenattrappe lahmzulegen. Sie hatte das kaum registriert. Was hatte ihr Sohn damit zu tun?
»Neben dem Wecker gab es noch ein paar pikante Details, die das Bombenräumkommando gefunden hat. Ein paar Dessous, Kleidergröße 38 und einen rotierenden naturfarbenen Analvibrator in Penisform mit Eiern dran und Reservebatterie. Dabei lagen einige Farbfotos von einer nackten Dame, der die Dessous aber vermutlich ein paar Nummern zu klein sein dürften. Die Fotos waren mit einer Digitalkamera aufgenommen und auf normalem weißem Druckerpapier ausgedruckt.«
»Ja, ja, und was soll das jetzt alles?«, unterbrach Ann Kathrin Klaasen ihren Kollegen. Sie wollte seinen genüsslichen Aufzählungen nicht länger zuhören, sondern endlich wissen, was ihr Sohn damit zu tun hatte.
Es war, als würde er vor ihr stehen, und sie könnte sein Grinsen sehen. »Nun, wir haben inzwischen den Namen der nackten Strandschönheit. Sie heißt Karin Flöckner und ist die Deutschlehrerin von deinem Herrn Sohn am Hans-Bödecker-Gymnasium. Er hat sie
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