Ostfriesenblut
kommt er so nicht durch, aber eigentlich ist es doch ganz pfiffig. Wenn der Vater als Mörder überführt wird und die Mutter in der Psychiatrie landet, dann hat er alles für sich alleine. Dann ist er wirklich der Gewinner. Mörder dürfen ihre Opfer nicht beerben.«
Sie drehten um und gingen zum Auto zurück, aber bevor Ann Kathrin einstieg, trommelte sie mit den Fingern einen Takt aufs Autodach und bat Weller, sie noch einmal zur Wohnung von Frau Orthner zu fahren. Sie wollte dort allein sein. Alles auf sich wirken lassen und hineinspüren.
Weller kannte das von ihr. Es war, als würden die Tatorte ihr etwas erzählen, wenn sie dort allein Zeit verbrachte. Er wusste nicht, was sie wirklich dort tat, denn er hatte nie das Privileg, dabei sein zu dürfen. Aber manchmal war sie nach ein paar Stunden an so einem Ort mit einer Idee zurückgekommen, die zur Lösung des Falles führte. Schon oft hatten er und Rupert
sich gefragt, warum sie die Dinge übersehen konnten. Aber Ann Kathrin Klaasen fand keine offensichtlichen Spuren. Sie nahm keine Fingerabdrücke. Sie erledigte nichts, was die Spurensicherung nicht längst getan hatte. Sie fing etwas auf, als trügen diese Orte einen Geist in sich. Eine Energie, die sie fühlen, ja vielleicht gar lesen konnte. Nie würde so etwas in einem ihrer Berichte auftauchen. Alles, was sie schrieb, war kühl und verantwortungsbewusst. Klare Fakten.
Er wäre zu gern dabei gewesen, doch obwohl sie die Intimität einer Nacht miteinander geteilt hatten, traute er sich nicht zu fragen. Dies hier war etwas anderes, ging weiter. Er hatte Angst, sie könnte sich durch ihn gestört fühlen.
Weller fuhr sie in den Auenweg Nr. 11 . Vor der Tür sagte er: »Ich gehe hier unten auf und ab und warte einfach. Lass dir Zeit.«
Ann Kathrin sah ihn dankbar an. In diesem Moment spürte sie, dass er sie liebte.
Sie brach das Türsiegel und setzte sich oben in den Sessel, in dem Frau Orthner ein paar Tage gefesselt verbracht haben musste. Es war draußen noch hell, und das Licht reichte ihr völlig aus. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und klammerte sich an den Stuhllehnen fest. Sie versuchte, hineinzuspüren. Wie war das gewesen? Was hatte Frau Orthner hier gefühlt? Hatte sie gewusst, dass sie sterben würde? War es das erste Mal gewesen, dass sie sich in so einer Situation befand? Hatte sie noch Hoffnung gehabt? Wann war ihr klargeworden, dass ihre Tochter vergessen hatte, sie loszumachen, und vielleicht nicht rechtzeitig zurückkommen würde?
Ann Kathrin saß vielleicht eine halbe Stunde so. Was mochte sie mit ihrem Enkel besprochen haben, wenn er sie regelmäßig hier besucht hatte – falls das stimmte. Hatten sie zusammen gespielt, waren sie spazieren gegangen?
In dem Moment sah sie etwas. Es schien bedeutungslos. Da
unten, unter dem Barockschreibtisch, gab es einen Internetanschluss, und ein Kabel hing heraus.
Ann Kathrin kroch ein Stück unter den Schreibtisch. Ja, ohne Frage, das war ein DSL -Anschluss. Aber wo war der Computer?
Auf dem Schreibtisch lag eine lederne Schreibunterlage, und es gab einen Brieföffner. Wenn auf der Tischplatte ein Computer gestanden hatte, dann musste er leicht gewesen sein, denn er hatte keine Druckspuren auf dem Leder hinterlassen.
Ann Kathrin Klaasen stellte sich vor, wie Frau Orthner in diesem Sessel gesessen und gespürt hatte, wie ihre Kräfte durch Durst und Hunger schwanden. Nur wenige Meter von ihr entfernt stand der Laptop mit funktionsfähigem Internetanschluss. Daneben das Telefon. Die Rettung war so nah gewesen und doch unerreichbar.
Warum hat sie nicht geschrien?, fragte Ann Kathrin Klaasen sich plötzlich. Komisch – muss ich über einen Internetanschluss und ein Telefon auf eine so naheliegende Frage kommen?
Sie ging runter zu Weller. Er war nur wenige Meter von der Tür weg, stand auf der anderen Straßenseite und war gerade dabei, seiner Nikotinsucht endlich nachzugeben. Er warf die Zigarette auf den Boden und wischte mit der Zunge über seine Zähne, als könnte er so den Nikotingeruch vertreiben. Er wollte Ann Kathrin in den Arm nehmen und mit ihr in den Distelkamp Nr. 13 fahren. Aber als sie näher kam, erkannte er schon an ihrer Körperhaltung, dass daraus vorläufig nichts werden würde.
Sie weihte ihn rasch ein.
»Okay«, nickte Weller. »Ich frag die Nachbarn. Es kann doch nicht sein, dass keiner einen Schrei gehört hat.«
»Und ich knöpf mir diesen Bastian nochmal vor«, versprach Ann Kathrin kampfeslustig.
Weitere Kostenlose Bücher