Ostfriesengrab
großen Macker markierst. Willst du ihn foltern oder was hast du vor?«
Weller schämte sich ein bisschen, und seine großen Gesten brachen gleich in sich zusammen. Mit hängenden Schultern setzte er sich auf den Boden und lehnte sich ans Buchregal. Er ließ den Kopf in den Nacken fallen und spürte hinter sich Ann Kathrins Bilderbuchsammlung.
»Okay«, sagte er, »was schlägst du vor?«
Sie berichtete ihm in aller Ausführlichkeit von dem Gespräch mit Frau Johannsen. Weller hörte, ohne Zwischenfragen zu stellen, zu. Das hatte er von ihr gelernt:
Wenn du etwas erfahren willst, unterbrich nie jemanden, der im Redefluss ist. Es kommt sowieso.
Sie endete mit dem entscheidenden Satz: »Ich soll den richtigen Mörder fangen oder irgendjemandem Beweismaterial unterschieben. Sobald er frei ist, will er mir den Namen verraten.«
Weller nickte stumm. So etwas Ähnliches hatte er sich gedacht.
Er hätte jetzt am liebsten einen Schnaps getrunken, befürchtete aber, dass sie wieder auf ihren schrecklichen Doornkaat zurückgreifen würde, deshalb holte er lieber zwei große Gläser Wasser. Er wusste, dass sie das ostfriesische Leitungswasser gern trank. Sie fühlte sich nach jedem Glas wie geklärt.
Ann Kathrin schlürfte ihr Glas mit einem Zug leer, er ließ seins halbvoll stehen.
Sie versank so sehr in sich, dass sie fast ein bisschen autistisch auf ihn wirkte.
»Und – was hast du vor?«, fragte er.
Sie zuckte mit den Schultern, doch er befürchtete, dass sie längst einen Plan hatte, aber damit nicht herausrücken wollte. Sie würde alles tun, um den Mörder ihres Vaters zu kriegen, da war er sich sicher. Sie würde ihren Job aufs Spiel setzen, ihre Beziehung – kein Preis war ihr dafür zu hoch.
Er formulierte es, obwohl es ihm schwerfiel: »Wenn dich heute jemand vor die Wahl stellen würde, alles aufzugeben – das Haus, deinen Beruf, mich und alle deine Freunde, und dafür würdest du den Mörder deines Vaters kriegen. Was würdest du tun?«
Sie stand auf und ging ihren Verhörgang. Drei Schritte, eine Kehrtwendung, drei Schritte, eine Kehrtwendung.
»Hast du mir überhaupt zugehört?«, fragte er. »Was würdest du tun?«
Sie warf ihm einen kurzen Blick zu, als hätte sie für solche Gedankenspielchen jetzt gar keine Zeit. »Ich würde nicht eine Sekunde nachdenken.«
Damit war die Frage für sie beantwortet, und sie lief weiter im Verhörgang durchs Wohnzimmer wie ein eingesperrtes Raubtier.
»Um was zu tun?«, hakte er ungeduldig nach, obwohl er die Antwort bereits ahnte.
»Um seinen Mörder zu kriegen, natürlich. Danach könnte ich ja wieder von vorne anfangen.«
Er nickte resigniert. »Klar. Ein neues Haus. Ein neuer Mann. Ein neuer Job.«
Etwas an seiner Art machte sie wütend. »Ja, wenn’s sein muss!«, schrie sie.
Er ging in die Küche und begann Kartoffeln zu schälen. Er bereitete einen Auflauf vor. Vielleicht würde er ihn alleine essen. Vermutlich sogar. Aber er musste jetzt etwas ganz Praktisches tun. Er brauchte etwas, das er schmecken, riechen und anfassen konnte. Dabei trank er ein Jever. Aus der Flasche. Er hoffte, dass sie sich irgendwann abgeregt haben würde und dann in die Küche käme, um das Gespräch mit ihm noch einmal zu beginnen. Doch das geschah nicht.
Als er den Auflauf im Ofen und die zweite Flasche Jever geleert hatte, entschied er sich, zu ihr ins Wohnzimmer zu gehen. Aber da war sie schon nicht mehr. Sie hatte die Ausdrucke mit in ihre heiligen Arbeitsräume genommen. Die Jagd nach dem Mörder ihres Vaters hatte endlich neue Impulse bekommen.
Weller ging ihr nach und begann ungefragt zu sprechen. Er bekam dabei feuchte Hände und wischte sie an seinem Baumwollhemd ab. »Wir können schlecht die Indizienbeweise beseitigen«, sagte er. »Aber wir könnten ihn bluffen.«
»Bluffen?«
»Wir haben ihn völlig unter Kontrolle. Er sitzt auf Nummer sicher. Wir können ihn anfüttern. Ihm ein Angebot machen. Wir könnten ihn zu einer Tatortbesichtigung holen und ihn da einfach laufen lassen. Meinst du, das könnte ihm als Angebot reichen?«
Ann Kathrin war wie elektrisiert. Ihre Körperhaltung erinnerte ihn an einen Fischreiher, den er in seiner Jugend beim Jagen beobachtet hatte. Völlig bewegungslos auf einem nackten kalten Stein, den scharfen Schnabel zum Töten bereit.
»Willst du ihn laufen lassen?«
Weller zuckte mit den Schultern. »Was soll schon passieren?
Wir haben ihn wie gesagt vollständig unter Kontrolle. Sobald er mit dem Namen rausrückt, greifen
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