OstfriesenKiller
aber das Geräusch hinter ihm kam nicht von einem Schaf. Kai drehte sich um.
Die Klinge von einem Schwert zerfetzte die Luft und zertrümmerte seinen Schädel.
Nummer Zwei.
Paul Winter wurde von einem Schrei geweckt, als der Name Kai Uphoff auf dem rosa Löschpapier durchgestrichen wurde. Im ersten Moment wusste Paul Winter nicht, ob er geträumt oder den Schrei wirklich gehört hatte. Dann wurde ihm klar, es war seine Tochter Jenny. Neben ihm im Bett reckte sich seine Frau Lioba.
»Gehst du?«
Schlaftrunken antwortete er mit einem »Hmmm«. Ohne Licht zu machen, stand er auf und ging mit traumwandlerischer Sicherheit ins Kinderzimmer.
Jenny war nassgeschwitzt. Ihre Stimme klang rau und krank. Er gab ihr ein Glas Wasser zu trinken und holte ein Fieberthermometer.
Die Kleine weinte. »Ich habe etwas Schreckliches geträumt«, sagte sie. Eine dunkle Wolke habe das Haus verschluckt und sie alle aufgegessen.
Paul Winter wusste, dass seine Tochter viel Phantasie hatte. Obwohl sie bereits im ersten Schuljahr war, lebte sie noch sehr in magischen Welten, unterhielt sich mit ihrem Teddybären, als sei er lebendig, und hielt ihre Träume und Phantasien für Wirklichkeit.
Sie hatte leicht erhöhte Temperatur, darum machte sich Paul Winter keine Sorgen. Die Kleine reagierte rasch mit Fieber, manchmal war sie zwei Nächte lang heiß und aß nichts. So kämpfte sie fast jede Krankheit nieder.
Am liebsten wäre er wieder schlafen gegangen, doch Jenny klammerte sich so sehr an ihn. Er spürte, dass sie wirklich Angst hatte. Sie verlangte von ihm, die Fenster zu schließen, damit die Wolke nicht hereinkönne.
Er nahm sie auf den Arm, wickelte eine flauschige Decke um sie und trug sie zum Fenster ihres Kinderzimmers. Er öffnete das Fenster und ließ ein bisschen von dem frischen Wind herein.
Sie klammerte sich mit beiden Armen so sehr an seinem Hals fest, dass er kaum Luft bekam. Lioba nannte Jenny ein Papakind. Wenn sie ein Problem hatte oder krank war, lief Jenny garantiert zu ihrem Vater, während ihr neunjähriger Sohn Tobias in ähnlichen Situationen zu seiner Mutter kam. So hatten sie ihre Kinder aufgeteilt in ein Mamakind und ein Papakind.
Natürlich hätte Paul Winter jedem ins Gesicht gesagt, dass er beide Kinder gleich liebte. Aber das stimmte nicht. Er fühlte sich für Jenny mehr verantwortlich als für Tobias. Vielleicht, dachte er, wäre er nicht so widerstandslos aufgestanden, um nach Tobias zu sehen wie nach Jenny.
Während er das Fenster schloss, wusste er, dass er die Nacht in Jennys Bett verbringen würde. Sie legte ihren Kopf auf seine Brust. So war sie schon als Säugling eingeschlafen, wenn nichts anderes mehr nutzte. Sie hörte seinen Herzton und schlief dabei langsam ein.
Als sie älter wurde, erzählte er zusätzlich noch Geschichten. Sie wollte immer die gleichen Geschichten hören, Abwechslung mochte sie gar nicht. Sie wollte wissen, wie die Dinge ausgehen. Dann konnte sie jede Spannung ertragen.
Besonders gern mochte sie Geschichten von Drachen, Rittern und Piraten, während Tobias die eher langweilig fand. Ihn interessierte der Weltraum, und am liebsten sah er mit seiner Mama sonntagabends in der ARD einen Tatort.
Ein Kissen unter den Kopf geklemmt, erzählte Paul Winter die Geschichte von dem Drachen, der Zahnschmerzen hatte. Kein Zahnarzt der Welt traute sich in seine Nähe, um ihm zu helfen, denn der Drache war als Menschenfresser bekannt. Nur ein kleines Mädchen namens Jenny hatte Mitleid mit dem Drachen und half ihm, denn sie war vor kurzem mit argen Zahnschmerzen beim Zahnarzt gewesen und hatte ihn auch nicht aufgefressen.
In alle Geschichten, die Paul Winter erzählte, wob er die Namen seiner Kinder und deren Spielkameraden ein. Die Kinder liebten das. Es machte seine Geschichten unendlich viel spannender für sie. So fühlten sie sich, als würden sie die Abenteuer selbst erleben.
Jenny schlief auf seiner Brust ein. Er hörte ihren gleichmäßigen Atem. Sie war noch immer ganz verschwitzt. Ruhig blieb er so liegen.
Er war Kirchenmusiker, hatte aber den Glauben an Gott längst verloren. Trotzdem konnte für ihn das Leben nach dem Tod nicht einfach vorbei sein. Es kam ihm so banal vor. Immer wieder fragte er sich, was aus der Seele des Menschen wird, wenn der Körper in der Erde zu Staub zerfällt.
Er ahnte nicht, dass er der Antwort auf diese Fragen sehr nahe war.
Der nächste Name auf der rosa Liste war Paul Winter.
Das fließende Wasser säuberte die Klinge
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