OstfriesenKiller
erkennen.
Er spielte mit den Buchstaben der Namen, mit den Wohnorten und zeichnete sie auf seiner Landkarte ein.
Selbst wenn wir die ganze Polizei Ostfrieslands aufbieten würden, dachte er, wären wir nicht in der Lage, alle 54 Mitarbeiter zu schützen. Und wer sagt uns, dass er nicht als Nächstes einen der Geschäftsleute tötet, die den Verein jährlich mit großzügigen Spenden bedachten? Der Verein wollte in Norderney ein Hotel bauen und eines in Norddeich. Konnte so etwas dahinterstecken? Ging es vielleicht auch um Grundstücksspekulationen?
Samstag, 30.April, 15.26 Uhr
Die Hausdurchsuchung im Regenbogen-Verein hatte Ann Kathrin Klaasen sich anders vorgestellt. Sie traf auf eine völlig veränderte Situation. Paul Winters Tod hatte allen klargemacht, dass sie selbst in Gefahr waren.
Wie Jeanne d’Arc vor der Schlacht stand Jutta Breuer breitbeinig im Büro und dirigierte ihre Getreuen. Es waren viel mehr Leute dort als bei Ann Kathrins letztem Besuch. Nicht nur Mitarbeiter waren hier, sondern auch Angehörige, Sympathisanten, Freunde. Hier entstand gerade ein Wir-Gefühl. Die Zentrale des Widerstands organisierte sich. Widerstand gegen …, ja, gegen was? Gegen den Mörder?
Zivildienstleistende nagelten Transparente an Besenstiele. Die Drucker der Computer spuckten Flugblätter aus. Ludwig Bongart verschickte E-Mails an vergleichbare Organisationen in ganz Niedersachsen und forderte sie zur Teilnahme an der großen Demonstration auf.
Rainer Kohlhammer hängte sich grinsend in ein Papiersandwich, auf dem stand:
Wir wollen leben!
»Was läuft hier eigentlich?«, fragte Ann Kathrin in den Raum hinein.
Jutta Breuer drehte sich zu ihr um. »Was hier läuft? Wir bereiten die Demonstration vor.«
»Was für eine Demonstration?«
»Na, hören Sie mal, glauben Sie, wir lassen uns hier weiterhin abschlachten? Der Terror gegen Behinderte hat eine lange Tradition in diesem Land. Erst trocknet man die Hilfsorganisationen finanziell aus, dann räumt man die Freunde und Helfer ganz aus dem Weg, und am Ende sind die Behinderten selbst dran.«
»Aber ich bitte Sie«, sagte Ann Kathrin, »Sie können doch den staatlich organisierten Terror der NS -Zeit nicht mit dem vergleichen, was hier gerade läuft. Wir haben es mit einem durchgeknallten Mörder zu tun. Die Polizei ist auf Ihrer Seite. Wir …«
Ludwig Bongart drehte sich zu Ann Kathrin um und stand vom Computer auf. »Wir werden die Krise als Chance nutzen. Wer immer uns in die Knie zwingen will, wird das Gegenteil erreichen. Wir werden nicht am Grab stehen und Ulfs, Kais und Pauls Leichen beweinen. Nein. Wir werden ihr Feuer weitertragen. Genau das hätte Ulf auch gewollt.«
Weller hatte genau so ein ungutes Gefühl wie Ann Kathrin. Er formulierte es nur noch nicht.
»Wo soll die Demonstration stattfinden?«, fragte Ann Kathrin.
»In Aurich auf dem Marktplatz. Und natürlich in der Fußgängerzone«, antwortete Jutta Breuer, aber Ludwig Bongart winkte ab. »Falls wir nicht einen Sternmarsch hinkriegen.«
Weller räusperte sich. »Ich hoffe doch, Sie haben das alles genehmigen lassen? Sie wissen, dass Demonstrationen genehmigungspflichtig sind, oder?«
Ludwig lachte. »Genehmigen ist gut. Wir werden das der Polizei mitteilen, und die gesamte Marschroute. Aber Sie glauben doch nicht im Ernst, dass wir um eine Genehmigung bitten werden? Das würde ja auch beinhalten, dass man uns das Ganze verbieten könnte. Und das werden wir nicht zulassen, Herr Kommissar. Dies ist ein freies Land. Man kann nicht die Speerspitze der Behindertenarbeit abknallen und glauben, dass nichts passiert. Vielleicht schließen Sie sich mit Ihren Kollegen unserem Demonstrationszug an?«
Josef de Vries, der 120 Kilo schwere Logopäde, der mit seinem dümmlichen Ausdruck und seiner wuscheligen Frisur viel behinderter aussah als die meisten seiner Klienten, drehte quietschend seinen Bürostuhl und wandte sich vom Computer ab. Im Papierkorb neben seinem Schreibtisch lag eine leere Schachtel Mon Chérie. Er riss das Papier von einem Schokoriegel ab und biss hinein. Wenn er nervös wurde, brauchte er etwas Süßes. Der Heißhunger darauf wurde dann unerträglich. Mit Schokolade hatte er die schlimmsten Situationen seines Lebens bewältigt. Genau so sah er auch aus.
Jetzt freute er sich. »Aus Hannover kommen sie mit drei Bussen! Die Lebenshilfe, das Rote Kreuz und …«
»Wann soll das alles stattfinden?«, fragte Ann Kathrin mit einem Kloß im Hals.
»Morgen um 16 Uhr. Früher geht es
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