OstfriesenKiller
nicht«, sagte Ludwig Bongart. »Einige kommen von weit her. Diesen 1.Mai wird Ostfriesland nicht vergessen!«
Ann Kathrin und Weller wechselten einen kurzen Blick. Sie wussten beide, dass sich dieser Demonstrationszug direkt auf eine Katastrophe zu bewegte.
»Vielleicht ist es genau das, was der Mörder erreichen will«, sagte Ann Kathrin.
Josef de Vries wuchtete sich vom Schreibtisch hoch und baute sich schnaufend auf. »Was reden Sie da? Glauben Sie, jemand legt unsere Leute um, damit wir eine besonders große Aufmerksamkeit kriegen? Damit das Spendenaufkommen steigt?«
Ann Kathrin schüttelte den Kopf. Weller wusste, was sie sagen wollte. Es passte ihm nicht. Sie hatte natürlich recht, aber er hätte die Angelegenheit trotzdem gerne erst bei einer Dienstbesprechung in Ruhe von allen Seiten abgewogen.
Doch dafür war Ann Kathrin Klaasen nicht die richtige Person. »Wer sagt Ihnen«, fragte sie, »dass der Mörder nicht hinter irgendeinem Fenster sitzt und ein Zielschießen veranstaltet auf alles, was sich bewegt?«
Es trat Ruhe ein. Die hektische Betriebsamkeit legte sich. Jeder hatte diese Worte gehört, und jeder wusste, dass etwas dran sein konnte.
Der fette Josef de Vries setzte sich wieder. Der Bürostuhl quietschte erneut unter seinem Gewicht.
»Das Ganze ist so, als würden Sie Schafe zu den Wölfen treiben. Verstehen Sie?«, fragte Ann Kathrin eindringlich.
Mit trockenem Hals sagte Ludwig Bongart: »Ja, sollen wir uns ab jetzt verstecken, oder was? Und warten, bis er uns heimlich in der Dunkelheit erledigt? Wir können doch sowieso nirgends mehr sicher sein. Ulf haben sie in seiner Wohnung abgeknallt! Wir repräsentieren offensichtlich alles, was dieser Typ hasst. Wir werden ihm jetzt einfach zeigen, wie viele wir sind. Wir verkriechen uns nicht. Wir tun genau das Gegenteil und zeigen ihm, dass er ein einsames Arschloch ist.«
Er sah sich um. Er kam sich heldenhaft vor in seinem Pathos.
Rainer Kohlhammer hatte sicherlich nicht bis in alle Einzelheiten verstanden, was Ludwig Bongart gesagt hatte. Doch er klatschte Beifall. Etwas von Ludwigs Charisma zeigte Wirkung. Rainer lachte, als würde er sich auf eine Party freuen.
Ann Kathrin versuchte es noch einmal, indem sie Jutta Breuer ansprach: »Bitte. Sie können das wirklich nicht tun. Wir können diese Demonstration auf keinen Fall genehmigen. Sie riskieren das Leben vieler Menschen.«
Jutta Breuer bewegte sich zunächst sehr langsam, fast katzenhaft. So behände hatte Ann Kathrin sie nicht eingeschätzt. Sie sprach mit unglaublicher Wut, sprang dabei von einem Transparent zum anderen und hielt es hoch. »Sie verwechseln da etwas, Frau Klaasen. Wir gefährden niemanden. Wir sind gefährdet. Wir haben nie jemanden angegriffen. Wir kämpfen ums Überleben. Das, was jetzt geschieht, ist nichts weiter als die sichtbare Spitze des Eisbergs der täglichen Diskriminierungen.«
Ludwig Bongart sah jetzt aus, als würde seine eigene forsche Art ihm inzwischen Angst machen. Aber er konnte hinter das einmal Gesagte nicht mehr zurückgehen.
Josef de Vries rollte mit seinem Stuhl ein Stückchen vor. Er sah Ann Kathrin von unten hoch an. Seine Augen hatten etwas Sanftmütiges.
»Vielleicht«, sagte er und deutete mit dem Kinn auf Ann Kathrin, »hat sie recht.«
Jutta Breuers katzenhafte Haltung veränderte sich. Jetzt sprang sie nicht mehr herum, sondern stand plötzlich ganz steif, als sei sie an einen Stock genagelt. Ihre Stimme hatte etwas Schneidendes: »Wir haben viel zu tun, Frau Kommissarin. Würden Sie uns jetzt bitte sagen, warum Sie gekommen sind?«
Weller kam sich irgendwie überflüssig vor. So, als würden sie alles mit Ann Kathrin Klaasen allein ausmachen. Gleichzeitig hatte er nichts dagegen einzuwenden, denn er spürte, was immer sie jetzt taten, sagten, veranlassten oder auch sein ließen, konnte falsch sein. Schrecklich falsch.
Angesichts der Situation fiel es Ann Kathrin schwer, doch sie blieb bei dem, was für sie naheliegend war. »Wir möchten Einblick in die Buchführung des Vereins. Zu diesem Zweck würden wir gerne die Akten sicherstellen.«
Jutta Breuer wich einen Schritt zurück. Jetzt plante sie ihren ganz großen Auftritt. Zunächst lachte sie demonstrativ höhnisch, dann zeigte sie mit beiden Fingern auf sich selbst und sprach zu allen: »Habt ihr das gehört? Sie schützen uns nicht. Wir sind nämlich die Verdächtigen! Wir! Genau das hat Ulf uns immer gelehrt. Der Behinderte steht unter Generalverdacht. Bei den Nazis
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