OstfriesenKiller
wurde trocken. »Du meinst, er will sich den 1.Mai nicht entgehen lassen?«
»Ja, genau das meine ich. Die Demonstration ist übrigens genehmigt worden.«
»Wieso das?«
»Ubbo Heide sagt, es sei nicht ganz einfach, eine Demo am 1.Mai zu verbieten. Und dann noch von Behinderten in dieser Situation. Die Kirchen sind mit von der Partie, alle Wohlfahrtsverbände und …«
Während Ann Kathrin mit Rupert sprach, beobachtete sie weiterhin Sylvia. Plötzlich spürte sie ein Kribbeln auf der Haut. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf: Wenn es wirklich um dieses Mädchen ging, um ihr Millionenvermögen, wer sagte eigentlich, dass Ulf Speicher das erste Opfer war? Warum war sie so verdammt einsam auf der Welt? Waren denn all ihre Verwandten tot?
Ann Kathrin hörte Rupert nicht mehr wirklich zu. Sie wimmelte ihn nur noch am Telefon ab. Sie traf sogar eine Verabredung mit ihm, um ihn loszuwerden, vergaß aber gleich, um wie viel Uhr sie sich wo mit ihm treffen wollte.
»Was guckst du mich so komisch an?«, fragte Sylvia. »Hab ich irgend etwas falsch gemacht?«
»Nein, natürlich nicht. Es ist alles o. k. Ich frag mich nur gerade … ich finde es so schade, dass so ein tolles Mädchen wie du keine Eltern mehr hat und auch keine Großeltern. Bist du denn ganz alleine?«
»Meine Eltern sind vor Rhodos ertrunken.«
»Ertrunken?«
»Na ja, wir wissen es nicht so ganz genau. Ihr Boot ist explodiert.«
»Ein Schiffsunglück?«
Sylvia hielt sich eine Hand so vors Gesicht, dass sie ihre Tränen verbergen konnte. Es fiel ihr immer noch schwer, darüber zu reden. Sie zog die Füße unter ihren Körper und saß jetzt im Sessel wie ein kleines Kind, das zugedeckt werden möchte.
Ann Kathrin gab dem Impuls nach, nahm eine Wolldecke und legte sie um Sylvias Schultern.
»Und wo warst du, als es passiert ist?«
»Bei meinen Großeltern.«
»Und wie sind deine Großeltern gestorben?«
»Warum willst du das wissen?«
»Ich interessiere mich eben für dich.«
Sylvia sprang im Sessel hoch. Sie stand jetzt mit beiden Beinen auf der Sitzfläche, ließ die Decke quer durchs Zimmer fliegen und sprang von dort in Ann Kathrins Arme. Sie drückte Ann Kathrin fest an sich und jubelte: »Ja, das stimmt, nicht wahr? Das stimmt wirklich! Du interessierst dich für mich. Du bist meine Freundin, stimmt’s?«
Ann Kathrin versuchte nicht, sich aus der Umklammerung zu befreien, obwohl es fast weh tat. Sie legte eine Hand zwischen Sylvias Schulterblätter und versuchte, sie zu beruhigen.
»Ja, ich glaube, wir könnten Freundinnen werden.«
»Woran meine Oma gestorben ist, weiß ich nicht. Sie war alt und einfach krank. Mein Opa ist überfahren worden.«
Ann Kathrin wusste, was sie zu tun hatte.
Sylvia erkannte die Aufbruchsstimmung und wusste, dass die Zeit mit Ann Kathrin beendet war. Sie fragte: »Kommst du heute Abend zu mir, wenn du deine doofe Arbeit erledigt hast?«
»Ich weiß nicht. Ja, vielleicht.«
»Wir könnten dann noch ins Kino gehen. Hast du Lust?«
In der Polizeiinspektion hätte Ann Kathrin Rieke Gersema fast nicht erkannt. Sie hatte Frau Gersema immer als attraktive Frau erlebt. Aber jetzt war sie geradezu aufgedonnert. Noch nie hatte es in ihrem Einzugsgebiet so viele Presseleute gegeben. Die Fernsehstationen von NDR , RTL , SAT .1, PRO 7 und mehrere freie Teams nisteten sich in Aurich ein. Die Augen des ganzen Landes waren auf Ostfriesland gerichtet. Schon viermal war Rieke Gersema vor die Kameras getreten, um Erklärungen abzugeben. Sie nannte das: den Kollegen den Rücken freihalten für die eigentliche Arbeit, bei der sie nicht belästigt werden sollten.
1471 Hinweise aus der Bevölkerung waren inzwischen eingegangen. Wer sich jemals über Behinderte in der Innenstadt aufgeregt hatte, fand sich plötzlich auf der Anklagebank als potentieller Killer wieder. Schüler vom Hans-Bödecker-Gymnasium verdächtigten offensichtlich einen Lehrer, weil er vor Jahren einen Rollstuhlfahrer geohrfeigt hatte.
Ann Kathrin bahnte sich den Weg in ihr Büro durch eine Traube freier Journalisten, die im Flur herumstanden und Eindrücke von der Arbeit der Polizei sammeln wollten. Sie fragte sich, wie diese Leute überhaupt unten hereingekommen waren. Mit diesem Fall geriet einiges aus den Fugen.
Ann Kathrin versuchte, sich ganz ihrer Arbeit zu widmen. Das permanent schrillende Telefon ignorierte sie. Sie checkte auch nicht ihre Mails. Sie konzentrierte sich ganz auf den Tod von Sylvia Kleines Eltern und Großeltern.
In der
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